Rz. 306
Der Europäische Gerichtshof hat am 12.1.2023 in einem Vorab-Entscheidungsverfahren über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (hier: Stundensatzvereinbarung im Rahmen einer Vergütungsvereinbarung eines litauischen Rechtsanwalts) entschieden. Diese Entscheidung soll, aufgrund ihrer Bedeutung für die Praxis, umfangreich dargestellt werden.
Rz. 307
Der EuGH:
Zitat
"1. Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5.4.1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen in der durch die Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.10.2011 geänderten Fassung"
ist wie folgt auszulegen:
Eine Klausel eines zwischen einem Rechtsanwalt und einem Verbraucher geschlossenen Vertrags über die Erbringung von Rechtsdienstleistungen, nach der sich die Vergütung Letzterer nach dem Zeitaufwand richtet, fällt unter diese Bestimmung.
2. Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 in der durch die Richtlinie 2011/83 geänderten Fassung
ist wie folgt auszulegen:
Eine Klausel eines zwischen einem Rechtsanwalt und einem Verbraucher geschlossenen Vertrags über die Erbringung von Rechtsdienstleistungen, nach der sich die Vergütung Letzterer nach dem Zeitaufwand richtet, genügt nicht dem Erfordernis gemäß dieser Bestimmung, dass die Klausel klar und verständlich abgefasst sein muss, wenn dem Verbraucher vor Vertragsabschluss nicht die Informationen erteilt worden sind, die ihn in die Lage versetzt hätten, seine Entscheidung mit Bedacht und in voller Kenntnis der wirtschaftlichen Folgen des Vertragsabschlusses zu treffen.
3. Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 in der durch die Richtlinie 2011/83 geänderten Fassung
ist wie folgt auszulegen:
Eine Klausel eines zwischen einem Rechtsanwalt und einem Verbraucher geschlossenen Vertrags über die Erbringung von Rechtsdienstleistungen, nach der sich die Vergütung Letzterer nach dem Zeitaufwand richtet und die daher den Hauptgegenstand des Vertrags betrifft, ist nicht bereits deshalb, weil sie dem Transparenzerfordernis gemäß Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie in der geänderten Fassung nicht entspricht, als missbräuchlich anzusehen, es sei denn, der Mitgliedstaat, dessen innerstaatliches Recht auf den betreffenden Vertrag anwendbar ist, hat dies gemäß Art. 8 der Richtlinie in der geänderten Fassung ausdrücklich vorgesehen.
4. Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 in der durch die Richtlinie 2011/83 geänderten Fassung sind wie folgt auszulegen:
In Fällen, in denen ein zwischen einem Rechtsanwalt und einem Verbraucher geschlossener Vertrag über die Erbringung von Rechtsdienstleistungen nach der Aufhebung einer für missbräuchlich erklärten Klausel, nach der sich die Vergütung für die betreffenden Dienstleistungen nach dem Zeitaufwand richtet, nicht fortbestehen kann und in denen die Dienstleistungen bereits erbracht sind, stehen nicht dem entgegen, dass das nationale Gericht, auch dann, wenn dies dazu führt, dass der Gewerbetreibende für seine Dienstleistungen überhaupt keine Vergütung erhält, die Lage wiederherstellt, in der sich der Verbraucher ohne die Klausel befunden hätte. Hätte die Nichtigerklärung des Vertrags insgesamt für den Verbraucher besonders nachteilige Folgen – was das vorlegende Gericht zu prüfen haben wird –, stehen die genannten Vorschriften nicht dem entgegen, dass das nationale Gericht der Nichtigkeit der Klausel abhilft, indem es sie durch eine dispositive oder im Fall einer entsprechenden Vereinbarung der Vertragsparteien anwendbare Vorschrift des innerstaatlichen Rechts ersetzt. Hingegen stehen die genannten Vorschriften dem entgegen, dass das nationale Gericht die für nichtig erklärte missbräuchliche Klausel ersetzt, indem es selbst bestimmt, welche Vergütung für die betreffenden Dienstleistungen angemessen ist.“
Rz. 308
Der Fall:
Ein litauischer Rechtsanwalt hatte mit seinem Mandanten fünf Vergütungsvereinbarungen getroffen, jeweils mit einem Stundensatz in Höhe von 100 EUR. Es handelte sich im Wesentlichen um familienrechtliche Angelegenheiten (Güterrecht/Aufenthaltsbestimmungsrecht/Unterhalt/Scheidung) sowie um die Vertretung gegenüber dem Polizeikommissariat und der Staatsanwaltschaft. Die Vergütung von jeweils 100 EUR wurde für "jede Stunde der Beratung oder Erbringung von Rechtsdienstleistungen gegenüber dem Auftraggeber" festgelegt.
Rz. 309
Nach Leistung eines Vorschusses in Höhe von 5.600 EUR und erfolgter Endabrechnung zahlte der Mandant keine weiteren Beträge, sodass der litauische Rechtsanwalt wegen des Restbetrags eine Klage auf Zahlung von 9.900 EUR zzgl. Nebenkosten und Zinsen erhob. Das erstinstanzliche Gericht gab der Klage teilweise statt. Da es jedoch die Klauseln über die Vergütung aller fünf Verträge für missbräuchlich ansah, setzte es die geforderte Vergütung um die Hälfte auf insgesamt 6.450 EUR herab, sodass nach Abzug des geleisteten Vorschusses noch ein Zahlungsbetrag in Höhe von 1.044,33 EUR nebst Zinsen ausgeurteilt wurde. Gegen diese Entscheidung legte der litauische Anwalt Berufung ein, die mit Besch...