Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 338
Der Arbeitnehmer muss sich vertragswidrig verhalten haben. Das setzt voraus, dass er eine bestimmte Verhaltenspflicht verletzt hat. In Betracht kommt sowohl die Verletzung von Hauptleistungspflichten als auch von vertraglichen Nebenpflichten (BAG v. 9.4.1987, AP Nr. 18 zu § 1 KSchG; BAG v. 25.10.1989, AP Nr. 36 zu § 611 BGB Direktionsrecht). Wird weder eine Haupt- noch eine Nebenpflicht verletzt, liegt keine Verletzung arbeitsvertraglicher Rücksichtnahmepflichten vor (BAG v. 24.6.2004, AP Nr. 49 zu § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung). Das Privatleben des Arbeitnehmers ist damit grds. kündigungsrechtlich unerheblich. Straftaten im Privatbereich rechtfertigen grundsätzlich keine verhaltensbedingte Kündigung, es sei denn, sie wirken sich auf das Arbeitsverhältnis aus. Die erhebliche Verletzung einer vertraglichen Nebenpflicht kann jedoch eine Kündigung sozial rechtfertigen. Eine Nebenpflicht kann auch durch eine außerdienstliche Straftat verletzt werden (BAG v. 10.4.2014 – 2 AZR 684/13, Rn 13; BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 583/12, Rn 24; BAG v. 28.10.2010 – 2 AZR 293/09, Rn 12).
Rz. 339
Verletzungen der Hauptleistungspflicht, d.h. der Arbeitspflicht, können bspw. Arbeitszeitverstöße oder Schlechtleistung sein. Nebenpflichten können sich aus dem Gesetz oder dem Arbeitsvertrag ergeben. Gesetzliche Nebenpflichten sind bspw. die Anzeige- und Nachweispflichten bei Arbeitsunfähigkeit gem. § 5 EFZG, die Diskriminierungsverbote nach dem AGG sowie Wettbewerbsverbote nach § 60 Abs. 1 HGB. Daneben folgen zahlreiche Nebenpflichten aus § 242 bzw. § 241 Abs. 2 BGB sowie aus arbeitsvertraglichen Vereinbarungen (BAG v. 24.6.2004 – 2 AZR 63/03, NZA 2005, 158; BAG v. 2.3.2006, NZA-RR 2006, 636). Solche Nebenpflichten sind z.B. Nebentätigkeitsverbote, Alkoholverbote oder das Verbot der Schmiergeldannahme (Schaub/Linck, ArbRHB, § 133 Rn 3).
Rz. 340
Der Vertragsverstoß des Arbeitnehmers muss objektiv vorliegen. Rein subjektive Einschätzungen des Arbeitgebers können eine verhaltensbedingte Kündigung nicht rechtfertigen. Es müssen objektive Umstände vorliegen, die einen ruhig und verständig urteilenden Arbeitgeber zum Ausspruch einer ordentlichen Kündigung veranlassen können (BAG v. 21.5.1992, AP Nr. 29 zu § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung; BAG v. 11.12.2003, AP Nr. 48 zu § 1 KSchG 1969 Verhaltensbedingte Kündigung m. Anm. Bauer; BAG v. 2.2.2006, AP Nr. 52 zu § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung).
Rz. 341
Grds. ist eine verhaltensbedingte Kündigung nur möglich, wenn den Arbeitnehmer ein Verschulden trifft (BAG v. 21.11.1996, AP Nr. 130 zu § 626 BGB; BAG v. 21.1.1999, AP Nr. 151 zu § 626 BGB; BAG v. 2.2.2006, AP Nr. 52 zu § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung). Erforderlich ist somit vorsätzliches oder fahrlässiges Verhalten (BAG v. 7.10.1993 – 2 AZR 226/93, NZA 1994, 443; BAG v. 4.6.1997, NZA 1997, 1281).
Rz. 342
In besonders gelagerten Ausnahmefällen kann allerdings nach Ansicht des BAG auch eine verhaltensbedingte Kündigung rechtmäßig sein, ohne dass den Arbeitnehmer ein Verschulden trifft. Dies soll dann der Fall sein, wenn aufgrund objektiver Umstände mit Wiederholungen zu rechnen ist (BAG v. 4.11.1957 – 2 AZR 57/56, DB 1958, 28) oder wenn die betriebliche Ordnung so nachhaltig gestört wird, dass dem Arbeitgeber die Fortdauer des Zustandes selbst dann nicht zuzumuten ist, wenn dem Arbeitnehmer die Vertragspflichtverletzung nicht vorwerfbar ist (BAG v. 21.1.1999, AP Nr. 151 zu § 626 BGB; offengelassen BAG v. 3.11.2011, BeckRS 2012, 67968; bejahend APS/Dörner, § 1 KSchG Rn 276; Thüsing/Laux/Lembke/Liebschner, § 1 KSchG Rn 371; v. Hoyningen-Huene/Linck, § 1 KSchG Rn 475; differenzierend: MüKo-BGB/Hergenröder, § 1 KSchG Rn 193; ablehnend: HaKo/Fiebig, § 1 KSchG Rn 224; KR/Griebeling § 1 KSchG Rn 395; ErfK/Oetker, § 1 KSchG Rn 191; Preis, DB 1990, 632: Verschuldenserfordernis gilt uneingeschränkt und nicht nur i.d.R.).
Rz. 343
In dem vom BAG 1999 entschiedenen Fall ging es um beleidigende und ehrabschneidende Verhaltensweisen eines Arbeitnehmers, der geltend gemacht hat, er habe auf keinen Fall schuldhaft gehandelt, weil er an einer psychischen Erkrankung leide. Das BAG hat in dem Verhalten des Klägers einen wichtigen Kündigungsgrund i.S.v. § 626 Abs. 1 BGB gesehen, obwohl ein schuldhaftes Handeln nicht festgestellt werden konnte. In diesem Zusammenhang betont das BAG v. dass bei einer verhaltensbedingten Kündigung der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers i.R.d. Interessenabwägung ein wichtiges, oft das wichtigste Abgrenzungskriterium bilde. Deshalb könnten verhaltensbedingte Gründe einer außerordentlichen Kündigung i.d.R. nur rechtfertigen, wenn der Gekündigte nicht nur objektiv und rechtswidrig, sondern auch schuldhaft seine Pflichten aus dem Vertrag verletzt habe. Unter besonderen Umständen könne aber auch ein schuldloses Verhalten des Arbeitnehmers den Arbeitgeber zu einer verhaltensbedingten Kündigung berechtigen. Wenn der Arbeitgeber auch in Zukunft immer wieder mit Pflichtverstößen des Arbeitnehmers rechnen müsse, kom...