Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 467
Der Arbeitgeber kann zu einer fristlosen oder fristgerechten Kündigung berechtigt sein, wenn der Arbeitnehmer während seiner angeblichen Arbeitsunfähigkeit einer anderweitigen Tätigkeit nachgeht, die geeignet ist, den Heilungsprozess zu verzögern und die Krankheit zu verlängern (BAG v. 13.11.1979 – 6 AZR 934/77, NJW 1980, 1917; KR/Etzel, § 1 KSchG Rn 475–477). Ob es zu einer tatsächlichen Verzögerung der Genesung kommt, ist hingegen nicht entscheidend (LAG Hamm v. 28.5.1998, LAGE § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 69). Geht der Arbeitnehmer während der Arbeitsunfähigkeit vollumfänglich einer anderweitigen Beschäftigung nach, kann dies den Verdacht einer vorgetäuschten Erkrankung begründen (vgl. LAG Frankfurt am Main v. 15.8.1985, LAGE § 626 BGB Nr. 23 sowie LAG Hamm v. 23.3.1989 und LAG Hamm v. 28.8.1991 – 15 Sa 437/91, n.v.). Es kann einen wichtigen Grund i.S.v. § 626 BGB zur fristlosen Kündigung darstellen, wenn der Arbeitnehmer unter Vorlage eines Attestes der Arbeit fernbleibt und sich Entgeltfortzahlung gewähren lässt, obwohl er in Wahrheit gar nicht krank ist (BAG v. 26.8.1993 – 2 AZR 154/93, NZA 1994, 63). In diesem Fall kann der Arbeitnehmer einen vollendeten Betrug begangen haben, indem er den Arbeitgeber durch Vorlage einer falschen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung veranlasst, ihm unberechtigterweise Entgeltfortzahlung zu leisten. Kann der Arbeitgeber nachweisen, dass der Arbeitnehmer während seiner Arbeitsunfähigkeit nicht nur geringfügige Tätigkeiten verrichtet, sondern eine planvoll fortgesetzte Beschäftigung ausübt, die der vertraglich geschuldeten Tätigkeit in etwa gleichkommt, ist der Beweiswert der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung mindestens erschüttert, wenn nicht sogar entkräftet. Jedenfalls muss nunmehr der Arbeitnehmer im Einzelnen vortragen und begründen, warum er die Arbeit bei seinem Vertragsarbeitgeber nicht verrichten konnte (BAG v. 26.8.1993 – 2 AZR 154/93, NZA 1994, 63).
Rz. 468
Davon zu unterscheiden ist die zulässige Nebentätigkeit während einer Arbeitsunfähigkeit. Geht der nicht bettlägerig erkrankte Arbeitnehmer einer geringfügigen Nebentätigkeit nach, die nach Art und Ausmaß nicht geeignet ist, den Genesungsprozess zu verzögern, kann darin i.d.R. noch kein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung erblickt werden (LAG Köln v. 7.1.1993, RzK I 6a Nr. 92). Das LAG Frankfurt am Main (v. 27.6.1991, LAGE § 626 BGB Nr. 63) hat eine Täuschung über die behauptete Arbeitsunfähigkeit in einem Fall angenommen, in dem eine Reinigungskraft abends 2,5 Stunden arbeitete, obwohl sie bettlägerig krankgeschrieben war.
Rz. 469
Kündigungsrelevant können auch Freizeitaktivitäten des Arbeitnehmers sein, bei denen die Gefahr besteht, dass sie den Genesungsprozess verzögern. In schweren Fällen kann dies eine fristlose Kündigung rechtfertigen (BAG v. 2.3.2006, EzA § 626 BGB 2002 Nr. – 18: Ski-Urlaub bei bestehender Arbeitsunfähigkeit wegen Hirnhautentzündung). In leichteren Fällen (jeweils abhängig von den Umständen des Einzelfalles bspw. Besuch der Fahrschule, Teilnahme an einem Weiterbildungskurs) kann eine ordentliche Kündigung ggf. erst nach vorheriger Abmahnung berechtigt sein. Es ist die konkrete Verletzung der Interessen des Arbeitgebers erforderlich (KR/Hillebrecht, § 626 BGB Rn 320). Nach Ansicht des LAG Hamm reicht für eine Kündigung auch eine nur mögliche ungünstige Auswirkung auf den Krankheits- bzw. den Heilungsverlauf aus (LAG Hamm v. 28.8.1991, DB 1992, 432).
Rz. 470
Besteht lediglich der Verdacht einer vorgetäuschten Erkrankung, ist zu beachten, dass der Arbeitnehmer nach den Regeln der Verdachtskündigung vorher angehört werden muss (zur Verdachtskündigung im Einzelnen vgl. Rdn 273 ff.). Die vorherige Anhörung des Arbeitnehmers ist grds. Wirksamkeitsvoraussetzung einer Verdachtskündigung (BAG v. 11.4.1985, DB 1986, 1726; BAG v. 14.9.1994, AP Nr. 24 zu § 626 BGB Verdacht strafbarer Handlung).