Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 419
Hat der Arbeitnehmer wiederholt gegen ein im Betrieb geltendes Alkoholverbot verstoßen, kann eine darauf gestützte verhaltensbedingte Kündigung nach vorheriger Abmahnung sozial gerechtfertigt sein (BAG v. 22.7.1982, DB 1983, 180). Dies gilt auch dann, wenn der Arbeitnehmer alkoholisiert zur Arbeit erscheint oder beeinflusst durch seinen alkoholisierten Zustand Auseinandersetzungen mit Arbeitskollegen oder Vorgesetzten provoziert oder in anderer Weise durch alkoholbedingtes Fehlverhalten gegen die Regeln der Arbeitsordnung verstößt (BAG v. 26.1.1995 – 2 AZR 649/94, NZA 1995, 517). Bei der Beurteilung einer im Zusammenhang mit alkoholbedingtem Fehlverhalten des Arbeitnehmers stehenden Kündigung ist allerdings zu differenzieren, ob verhaltensbedingte Gründe vorliegen oder ob die Maßstäbe einer personenbedingten Kündigung aus Krankheitsgründen anzuwenden sind (vgl. hierzu Rdn 230 ff.). Beruht der Alkoholmissbrauch auf einer Alkoholabhängigkeit, gelten die Regeln der krankheitsbedingten Kündigung, denn Alkoholabhängigkeit ist nach der Rspr. des BAG eine Krankheit im medizinischen Sinne (BAG v. 9.4.1987 – 2 AZR 210/86, DB 1987, 2156 = BB 1987, 1815; BAG v. 13.12.1990, EzA § 1 KSchG Krankheit Nr. 33). Von krankhaftem Alkoholismus ist auszugehen, wenn der Arbeitnehmer infolge psychischer oder physischer Abhängigkeit übermäßigen oder gewohnheitsmäßigen Alkoholgenuss trotz besserer Einsicht nicht aufgeben oder reduzieren kann (BAG v. 1.6.1983, AP Nr. 52 zu § 1 LohnFG). Eine Kündigung wegen Pflichtverletzungen, die ihre Ursache in einer Alkoholabhängigkeit des Arbeitnehmers haben, ist i.d.R. sozialwidrig, weil dem Arbeitnehmer kein Schuldvorwurf gemacht werden kann.
Rz. 420
Auch wegen der ordnungsgemäßen Betriebsratsanhörung gem. § 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG ist eine genaue Unterscheidung zwischen der Kündigung wegen einer steuerbaren verhaltensbedingten Pflichtwidrigkeit im Bereich des Alkoholkonsums einerseits und der auf krankhafter Alkoholabhängigkeit beruhenden Störquelle andererseits erforderlich (vgl. BAG v. 5.2.1981 – 2 AZR 1135/78, DB 1982, 1171).
Rz. 421
Materiellrechtlich gelten ebenfalls unterschiedliche Regeln: Eine auf Alkoholabhängigkeit gestützte Kündigung erfordert kein Verschulden, aber eine besondere Prognoseprüfung. Es ist zu fragen, ob auch in Zukunft mit alkoholbedingten Arbeitsunfähigkeitszeiten, Leistungseinschränkungen oder einem betriebsstörenden alkoholbedingten Fehlverhalten zu rechnen ist. Dabei kann es entscheidend darauf ankommen, ob der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt des Ausspruches der Kündigung bereit war, eine Entziehungskur oder Therapie durchzuführen (im Einzelnen vgl. Rdn 232).
Rz. 422
Beruft sich der Arbeitnehmer auf eine bei ihm vorliegende Suchterkrankung, muss dies im Streitfall durch ärztliche Atteste oder entsprechende Krankheitssymptome belegt werden. Liegt keine Alkoholabhängigkeit vor, werden etwaige aus einem übermäßigen Alkoholgenuss resultierenden Tätlichkeiten regelmäßig schuldhaft sein.
Rz. 423
Eine Alkoholabhängigkeit schließt allerdings nicht stets das Verschulden des Arbeitnehmers aus, denn ein nüchterner Alkoholiker kann schuldhaft handeln.
Rz. 424
Eine häufige Fehlerquelle ist die mangelnde oder unklare Ausprägung des betrieblichen Alkoholverbotes. Ist in einer Arbeitsordnung der Alkoholgenuss lediglich während der Arbeitszeit untersagt, kann das Trinken von Alkohol während der Pausen insb. dann nicht pflichtwidrig sein, wenn im Betrieb Gelegenheit besteht, alkoholische Getränke käuflich zu erwerben. Dies ist i.R.d. Interessenabwägung zugunsten des Arbeitnehmers zu berücksichtigen (LAG Köln v. 29.6.1987, LAGE § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 14). In diesem Zusammenhang ist auch die UVV in § 15 Abs. 2 BGV A1 zu beachten, die es dem Arbeitnehmer verbietet, sich in einen Zustand zu versetzen, in dem er sich oder andere gefährden kann. Der Arbeitnehmer ist ohnehin allgemein verpflichtet, seine Arbeitsfähigkeit, d.h. die Quantität oder die Qualität der von ihm zu erbringenden Arbeitsleistungen, nicht durch Alkoholgenuss zu beeinträchtigen. Bei besonderer Unfallgefahr können bereits geringe Alkoholmengen pflichtwidrig sein (vgl. Künzl, BB 1993, 1581; Willemsen/Brune, DB 1988, 2304 sowie BAG v. 23.9.1986, AP Nr. 20 zu § 75 BPersVG).
Rz. 425
Ein besonderes Problem ist die Nachweispflicht. Der Arbeitgeber muss gem. § 1 Abs. 2 S. 4 KSchG darlegen und beweisen, dass der Arbeitnehmer alkoholbedingt nicht mehr in der Lage war, seine arbeitsvertraglichen Verpflichtungen ordnungsgemäß zu erfüllen, bzw. dass für ihn oder andere Arbeitnehmer ein erhöhtes Unfallrisiko bestand. Der betroffene Arbeitnehmer kann gegen seinen Willen weder zu einer Untersuchung seines Blutalkoholwertes noch zur Mitwirkung an einer Atemalkoholanalyse gezwungen werden (BAG v. 26.1.1995, DB 1985, 1028). Der Arbeitgeber muss sich dann darauf beschränken Indizien (Alkoholfahne, schwankender Gang, aggressives Verhalten, lallende Sprache) vorzutragen, aus denen er subjektiv den Eindruck einer Alkoholisier...