Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 398
Die verhaltensbedingte Kündigung ist nur sozial gerechtfertigt, wenn im Rahmen einer umfassenden Interessenabwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles festgestellt wird, dass das Interesse des Arbeitgebers an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses dasjenige des Arbeitnehmers an seiner Fortsetzung überwiegt (BAG v. 22.7.1982, BB 1983, 823; BAG v. 16.8.1991, DB 1992, 1479).
Rz. 399
Bei der Abwägung sind von besonderer Bedeutung die Art, Schwere, Häufigkeit und Beharrlichkeit der Pflichtverletzung sowie der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers (BAG v. 21.1.1999, AP Nr. 151 zu § 626 BGB). Auch die Sozialdaten des Arbeitnehmers, d.h. Betriebszugehörigkeit, Alter, Unterhaltspflichten und eine ggf. bestehende Schwerbehinderung, sind grds. zu berücksichtigen (Küttner/Eisemann, Kündigung verhaltensbedingt, Rn 11). Allerdings sind dabei folgende Besonderheiten zu beachten: Im Hinblick auf die Betriebszugehörigkeit ist einem langjährig Beschäftigtem, der sich in der Vergangenheit stets beanstandungsfrei verhalten hat, ein einmaliger Pflichtenverstoß eher nachzusehen als einem erst kurze Zeit beschäftigtem Arbeitnehmer (v. Hoyningen-Huene/Linck, § 1 KSchG Rn 473). Dem Lebensalter des Arbeitnehmers kommt bei verhaltensbedingten Kündigungen demgegenüber eher eine untergeordnete Bedeutung zu (BAG v. 5.4.2001, AP Nr. 171 zu § 626 BGB). Je nach Art und Gewicht des Kündigungsgrundes können die Unterhaltspflichten und der Familienstand bei der Interessenabwägung in den Hintergrund treten und im Extremfall sogar völlig vernachlässigt werden (BAG v. 27.2.1997 – 2 AZR 302/96, NZA 1997, 761; BAG v. 16.12.2004, EzA § 626 BGB Nr. 7; BAG v. 27.4.2006, EzA § 626 BGB Nr. 17). Eine Berücksichtigung der Unterhaltspflichten kann bspw. aber in Betracht kommen, wenn der Kündigungsvorwurf (auch) im Zusammenhang mit der familiären Situation des Arbeitnehmers steht (BAG v. 16.12.2004, EzA § 626 BGB Nr. 7). Eine Schwerbehinderung dürfte ebenfalls nur dann zu berücksichtigen sein, wenn sie mit dem Vertragsverstoß im Zusammenhang steht. Nach teilweiser Ansicht in der Literatur, sollen auch die Chancen des Arbeitnehmers auf dem Arbeitsmarkt Berücksichtigung finden können (KR/Griebeling, § 1 KSchG Rn 411; APS/Dörner, § 1 KSchG Rn 433).
Rz. 400
Zudem können betriebliche Beeinträchtigungen, die durch die Pflichtverletzung verursacht sind, wie z.B. Betriebsablaufstörungen, Vermögensschäden und Rufschädigungen zu berücksichtigen sein (BAG v. 17.1.1991, AP Nr. 25 zu § 1 KSchG, Verhaltensbedingte Kündigung; Bitter/Kiel, RdA 1995, 333 ff.). Im Gegensatz zur früheren Rspr. verlangt das BAG jedoch nicht mehr, dass es in jedem Fall zu einer konkreten Störung des Betriebsablaufes oder des Betriebsfriedens gekommen ist (BAG v. 17.1.1991, AP Nr. 25 zu § 1 KSchG, Verhaltensbedingte Kündigung; Bitter/Kiel, RdA 1995, 333 ff.; BAG v. 16.8.1991, AP Nr. 27 zu § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung). Eine Störung des Betriebsablaufes muss namentlich nicht vorliegen, wenn der Arbeitnehmer unzweifelhaft seine Vertragspflichten nachhaltig missachtet (BAG v. 17.1.1991, AP Nr. 25 zu § 1 KSchG, Verhaltensbedingte Kündigung). I.Ü. muss es sich auch nicht um erhebliche Störungen des Betriebsablaufes handeln, sondern Betriebsablaufstörungen können allgemein i.R.d. Interessenabwägung für den Arbeitnehmer zusätzlich belastend berücksichtigt werden (BAG v. 17.1.1991, AP Nr. 25 zu § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung).
Rz. 401
Auch ein etwaiges Mitverschulden des Arbeitgebers ist bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen (v. Hoyningen-Huene/Linck, § 1 KSchG Rn 473).