Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 431
Die Einschaltung der Staatsanwaltschaft durch einen Arbeitnehmer wegen eines vermeintlich strafbaren Verhaltens des Arbeitgebers oder seiner Repräsentanten stellt als Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte – soweit nicht wissentlich unwahre oder leichtfertig falsche Angaben gemacht werden – im Regelfall keine eine Kündigung rechtfertigende Pflichtverletzung dar (BAG v. 15.12.2016 – 2 AZR 42/16, Rn 14; BVerfG v. 2.7.2001 – 1 BvR 2049/00, zu II 1 b cc bbb der Gründe). Dies kann u.a. dann anders zu beurteilen sein, wenn trotz richtiger Darstellung des angezeigten objektiven Sachverhalts für das Vorliegen der nach dem Straftatbestand erforderlichen Absicht keine Anhaltspunkte bestehen und die Strafanzeige sich deshalb als leichtfertig und unangemessen erweist (BAG v. 15.12.2016 – 2 AZR 42/16, Rn 14; zur fristlosen Kündigung eines Mietverhältnisses vgl. BVerfG v. 2.10.2001 – 1 BvR 1372/01, zu 2 b der Gründe). Zwar sind auch die in Strafanzeigen enthaltenen Werturteile vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG erfasst (BAG v. 15.12.2016 – 2 AZR 42/16, Rn 14). Das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG ist aber nicht vorbehaltlos gewährt, sondern steht gem. Art. 5 Abs. 2 GG unter dem Schrankenvorbehalt der allgemeinen Gesetze (BAG v. 15.12.2016 – 2 AZR 42/16, Rn 14). Das erfordert eine fallbezogene Abwägung zwischen dem Grundrecht der Meinungsfreiheit und dem vom grundrechtsbeschränkenden Gesetz – z.B. § 241 Abs. 2 BGB – geschützten Rechtsgut (BVerfG v. 9.10.1991 – 1 BvR 221/90, zu B II 3 a der Gründe, BVerfGE 85, 23).
Erstattet der Arbeitnehmer gegen einen gesetzwidrig handelnden Arbeitgeber bei einer staatlichen Stelle (Finanzamt, Gewerbeaufsicht, Arbeitsagentur, Staatsanwaltschaft) Anzeige, besteht kein verhaltensbedingter Kündigungsgrund, wenn es sich um außerdienstliche Vorgänge handelt oder die Straftaten abgeschlossene Vorgänge sind (BVerfG v. 2.7.2001, EzA § 626 BGB Nr. 188). Dasselbe gilt, wenn der Arbeitnehmer sich selbst einer Strafverfolgung aussetzen würde, falls er das gesetzeswidrige Verhalten seines Arbeitgebers nicht anzeigen würde, wenn eigene Rechtsgüter des Arbeitnehmers gefährdet sind, es um schwerwiegende Straftaten oder um Straftaten geht, die der Arbeitgeber selbst begangen hat (BAG v. 3.7.2003, EzA § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 61). Hat hingegen nicht der Arbeitgeber oder sein gesetzlicher Vertreter, sondern ein Mitarbeiter seine Pflichten verletzt oder strafbar gehandelt, ist es eher zumutbar, vom Arbeitnehmer vor einer Anzeigenerstattung – auch wenn ein Vorgesetzter betroffen ist – einen Hinweis an den Arbeitgeber zu verlangen. Dies gilt insb. dann, wenn es sich um Pflichtwidrigkeiten handelt, die – auch – den Arbeitgeber selbst schädigen, also die vertragliche Verpflichtung des Arbeitnehmers berührt ist, den Arbeitgeber gegen drohende Schäden durch andere Arbeitnehmer zu bewahren (BAG v. 3.7.2003, EzA § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 61). Infolgedessen können Anzeigen des Arbeitnehmers eine verhaltensbedingte Kündigung rechtfertigen, wenn er nicht zuvor erfolglos versucht hat, die Angelegenheit innerbetrieblich zu klären, um ggf. seinen Arbeitgeber oder seine Mitarbeiter durch entsprechende Hinweise von ihrer Handlungsweise abzubringen, es sei denn, der Arbeitnehmer konnte eine Änderung des Verhaltens nicht erwarten (BAG v. 3.7.2003, EzA § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 61).
Rz. 432
Wenn der Arbeitnehmer jedoch in einer Strafanzeige gegen seinen Arbeitgeber wissentlich oder leichtfertig falsche Angaben macht oder er eine Anzeige ausschließlich in Schädigungsabsicht stellt, kann dies nach der Rspr. des BAG eine ordentliche Kündigung rechtfertigen (BAG v. 3.7.2003, EzA § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 61).
Aufsehen erregt hat ein Urteil des EGMR v. 21.7.2011 (Az. 28274/08). Dem Rechtsstreit beim EGMR ist ein Gerichtsverfahren beim LAG Berlin vorangegangen. Dabei ging es um eine Altenpflegerin, die Strafanzeige gegen ihren Arbeitgeber erstattet hatte, weil ihrer Ansicht nach in dem Altenpflegeheim Mängel in der Personalausstattung und bei den Pflegestandards bestanden und Pflegeleistungen nicht korrekt dokumentiert wurden. Vorangegangene Beschwerden der Altenpflegerin ggü. der Geschäftsleitung waren von dieser zurückgewiesen worden.
Parallel zu ihrer Strafanzeige gründete die Arbeitnehmerin eine Solidaritätsgruppe, die ein Flugblatt verfasste, in dem auf die Strafanzeige wegen schweren Betruges hingewiesen wurde. Daraufhin sprach der Arbeitgeber eine fristlose Kündigung aus. Das ArbG Berlin hielt die Kündigung für unwirksam. Das LAG Berlin gab jedoch der Arbeitgeberin Recht und führte über mehrere Seiten aus, dass die Arbeitnehmerin ihre Anschuldigungen ohne entsprechende Tatsachengrundlage gemacht habe. Das BAG wies die Nichtzulassungsbeschwerde der Arbeitnehmerin zurück, das BVerfG nahm die hiergegen erhobene Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an. Daraufhin rief die Arbeitnehmerin den EGMR an und rügte einen Verstoß gegen die Europäische M...