Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 1110
Die Stellung der schwerbehinderten Menschen im Arbeitsrecht ist durch das SGB IX neu geregelt worden. Das Gesetz ist am 1.7.2001 in Kraft getreten. Ein Kernelement des neuen Rechtes ist die Neufassung des Behindertenbegriffes in § 2 Abs. 1 SGB IX. Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Dabei stellt das SGB IX in § 2 Abs. 2 SGB IX weiterhin auf einen Grad der Behinderung von 50 ab. Zugleich wird der Begriff des Schwerbehinderten zugunsten des geschlechtsneutralen Ausdrucks "schwerbehinderter Mensch" aufgegeben.
Rz. 1111
Es ist aufgrund der Neuregelung des Schwerbehindertenrechts im SGB IX bezogen auf den Sonderkündigungsschutz zu folgenden Änderungen gekommen. Im Rahmen des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen, Bundesteilhabegesetz, ist § 95 Abs. 2 SGB IX ergänzt worden. Der besondere Kündigungsschutz findet sich in der am 1.1.2018 in Kraft getretenen Neufassung des SGB IX in den §§ 168–175 SGB IX wieder. Mit dieser Verschiebung der Vorschriften innerhalb des SGB IX geht allerdings keine inhaltliche Änderung einher. Lediglich die Verweisungen in den einzelnen Normen wurden angepasst.
Eine wesentliche inhaltliche Änderung ergibt sich hingegen aus den Vorschriften über die Schwerbehindertenvertretung, die ab dem 1.1.2018 in den §§ 176 bis 183 SGB IX zu finden sind. Nach § 178 Abs. 2 S. 1 SGB IX hat der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung in allen Angelegenheiten, die einen einzelnen schwerbehinderten Menschen oder die schwerbehinderten Menschen als Gruppe berühren, unverzüglich und umfassend zu unterrichten und vor einer Entscheidung anzuhören. Spricht der Arbeitgeber die Kündigung gegenüber einem schwerbehinderten Menschen ohne die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung aus, ist die Kündigung nach § 178 Abs. 2 S. 3 SGB unwirksam. Die Pflicht zur Anhörung der Schwerbehindertenvertretung besteht bei allen Kündigungen – und damit auch bei Änderungskündigungen – schwerbehinderter oder gleichgestellter Arbeitnehmer. Dies gilt unabhängig davon, dass das Integrationsamt eine Stellungnahme der Schwerbehindertenvertretung einzuholen hat. Ist der Antrag auf Zustimmung schon gestellt, hat der Arbeitgeber seine Willensbildung bereits abgeschlossen und seinen Willen nach außen erkennbar manifestiert. Die Schwerbehindertenvertretung kann daher nicht mehr an der Willensbildung mitwirken, sondern könnte nur darauf drängen, dass der Arbeitgeber seine bereits getroffene Entscheidung revidiert.
Eine Reihenfolge der Beteiligung von Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung sieht das Gesetz nicht vor. Der Betriebsrat hat keinen Anspruch darauf, dass zum Zeitpunkt seiner Anhörung bereits eine Stellungnahme der Schwerbehindertenvertretung vorliegt. Beteiligung i.S.d. § 178 Abs. 2 S. 1 SGB IX ist allein die Unterrichtung und die Anhörung der Schwerbehindertenveertretung. Dies bedeutet: Die Unwirksamkeitsfolge des § 178 Abs. 2 S. 3 SGB IX gilt nicht, wenn er Arbeitgeber nur die Mitteilungspflicht gem. § 178 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 SGB IX verletzt.
Eine verspätete Beteiligung gem. § 178 Abs. 2 S. 2 SGB IX ("unverzügliche Unterrichtung") kann nachgeholt werden. Diese Nachholungsmöglichkeit besteht kraft Gesetzes. Sie besteht, bis die Entscheidung (Kündigung) durchgeführt und vollzogen ist. Die Anhörung muss nicht erfolgen, bevor der Arbeitgeber den Betriebsrat beteiligt oder das Integrationsamt um Zustimmung zu einer beabsichtigten Kündigung ersucht. Sie ist ordnungsgemäß, wenn der Arbeitgeber dieSchwerbehindertenvertretung ausreichend unterrichtet und ihr genügend Gelegenheit zur Stellungnahme gibt. Genügend Gelegenheit zur Stellungnahme besteht, wenn die Schwerbehindertenvertretung -analoge Anwendung von § 102 Abs. 2 BetrVG- etwaige Bedenken gegen eine beabsichtigte ordentliche Kündigung spätestens innerhalb einer Woche, und solche gegen die beabsichtigte außerordentliche Kündigung unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb von drei Tagen mitteilt (BAG v. 13.12.2018 – 2 AZR 378/18).
Um frühzeitig möglichen Gefährdungen des Arbeitsverhältnisses aus gesundheitlichen Gründen begegnen zu können, soll nach einer dreimonatigen Krankheit eines schwerbehinderten Menschen der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung einschalten (§ 178 Abs. 1 und 2 SGB IX). Voraussetzung ist allerdings, dass die betroffene Person zustimmt. Eine Kündigung ist entsprechend dem das ganze Kündigungsrecht beherrschenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unverhältnismäßig und damit rechtsunwirksam, wenn sie durch andere Mittel vermieden werden kann, d.h. wenn die Kündigung nicht zur Beseitigung der betrieblichen Beeinträchtigungen bzw. der eingetretenen Vertragsstörung geeignet oder nicht erforderlich ist. § 84 Abs. 2 SGB IX stellt eine Konkretisierung die...