Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 776
Gem. § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG sind solche Arbeitnehmer nicht mit in die Sozialauswahl einzubeziehen, deren Weiterbeschäftigung insb. wegen ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen oder zur Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur des Betriebes im berechtigten betrieblichen Interesse liegt. Die Aufzählung ist nicht abschließend, wie sich aus dem Wort "insbesondere" ergibt. So können bspw. auch wichtige Kundenkontakte eines Arbeitnehmers es rechtfertigen, ihn von der Sozialauswahl auszunehmen (Küttner/Eisemann, Kündigung, betriebsbedingte Rn 40; ErfK/Oetker, § 1 KSchG Rn 346). Es ist ausreichend, wenn der Leistungsträger nur eine der im Gesetz genannten besonderen Eigenschaften aufweist (APS/Kiel, § 1 KSchG Rn 753). Aus dem Umstand, dass nach dem Gesetzeswortlaut ein betriebliches Interesse nicht ausreicht, sondern es vielmehr erforderlich ist, dieses müsse "berechtigt" sein, folgt, dass ein betriebliches Interesse auch "unberechtigt" sein kann (BAG v. 19.7.2012 – 2 AZR 352/11, Rn 36). Nach dem Gesetz sind danach dem betrieblichen Interesse entgegengesetzte Interessen denkbar, die einer Herausnahme von sog. Leistungsträgern aus der Sozialauswahl entgegenstehen können (BAG v. 19.7.2012 – 2 AZR 352/11, Rn 36). Bei den gegenläufigen Interessen kann es sich angesichts des Umstands, dass § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG eine Ausnahme vom Gebot der Sozialauswahl statuiert, nur um die Belange des sozial schwächeren Arbeitnehmers handeln (BAG v. 19.7.2012 – 2 AZR 352/11, Rn 36). Diese sind im Rahmen des § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG daher gegen das betriebliche Interesse an einer Herausnahme von Leistungsträgern abzuwägen (BAG v. 19.7.2012 – 2 AZR 352/11, Rn 36). Je schutzbedürftiger dabei der sozial schwächere Arbeitnehmer ist, umso gewichtiger müssen die Gründe für die Herausnahme des Leistungsträgers sein (BAG v. 19.7.2012 – 2 AZR 352/11, Rn 36; BAG v. 31.5.2007 – 2 AZR 306/06 – BAGE 123, 20). Die Abwägung hat im konkreten Vergleich zu erfolgen (BAG v. 19.7.2012 – 2 AZR 352/11, Rn 36; BAG v. 10.6.2010 – 2 AZR 420/09, Rn 29, BAG EzA KSchG § 1 Interessenausgleich Nr. 22).
Rz. 777
Es liegt in der freien Entscheidung des Arbeitgebers, ob er sich auf die Ausnahmevorschrift stützen will oder nicht. Arbeitnehmer können sich hingegen grds. nicht auf die Ausnahmeregelung berufen und verlangen, von der Sozialauswahl ausgenommen zu werden (Ascheid, RdA 1997, 338; Bader, NZA 2004, 65, 74; KR/Griebeling, § 1 KSchG Rn 631; APS/Kiel, § 1 KSchG Rn 749). Ausnahmen können sich aus dem Grundsatz der Gleichbehandlung ergeben (vgl. im Einzelnen Thüsing/Wege, RdA 2005, 12, 13; APS/Kiel, § 1 KSchG Rn 749).
Rz. 778
Der gekündigte Arbeitnehmer kann jedoch geltend machen, dass der Arbeitgeber ihm deshalb zu Unrecht gekündigt habe, weil er einen anderen Arbeitnehmer fälschlicherweise nicht in die Sozialauswahl einbezogen habe (Münch-ArbR/Berkowsky, § 139 Rn 279). Voll nachprüfbar ist von den ArbG, ob die Arbeitnehmer, welche der Arbeitgeber nicht in die Sozialauswahl einbezogen hat, die von § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG erfassten Merkmale tatsächlich aufweisen (Berthel/Berscheid, WPrax 1996, 2, 8).
Rz. 779
Zu beachten ist ferner, dass nur Vorteile des "Leistungsträgers" ausschlaggebend sein können, nicht jedoch Nachteile des sozial schutzwürdigeren Arbeitnehmers. Infolgedessen kann eine höhere Krankheitsquote des sozial schutzwürdigeren Arbeitnehmers die Herausnahme des Leistungsträgers aus der Sozialauswahl nicht rechtfertigen (BAG v. 31.5.2007 – 2 AZR 306/06, NZA 2007, 1362).
Rz. 780
Besteht ein Weiterbeschäftigungsbedürfnis nur für eine bestimmte Anzahl einer Gruppe von "Leistungsträgern", muss der Arbeitgeber unter den infrage kommenden "Leistungsträgern" eine Sozialauswahl durchführen (APS/Kiel, § 1 KSchG Rn 749; a.A. Berscheid, WiPra 1996, 354, 357: freie Entscheidung i.R.d. Billigkeit).