Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 449
Von Arbeitsverweigerung kann nicht gesprochen werden, wenn der Arbeitnehmer bei Ausführung der verlangten Arbeit in einen vermeidbaren Gewissens- oder Glaubenskonflikt gerät. Lehnt ein Chemiker es bspw. ab, an der Entwicklung eines Medikamentes für militärische Zwecke mitzuarbeiten, kann der Arbeitgeber nach § 106 S. 1 GewO verpflichtet sein, ihm eine andere Arbeit zuzuweisen. Voraussetzung ist allerdings, dass die Ausführung der zugewiesenen Arbeit den Arbeitnehmer in eine Gewissensnot bringen würde. Maßgebend ist der sog. subjektive Gewissensbegriff, d.h. der Arbeitnehmer muss darlegen, dass es ihm aufgrund seiner Überzeugung und wegen einer ganz spezifischen Sachlage nicht zuzumuten ist, die an sich vertraglich geschuldete Leistung zu erbringen (BAG v. 24.5.1989 – 2 AZR 285/88, NJW 1989, 203 = NZA 1990, 144). Die Bedeutung und Bewertung der Gewissensbildung unterliegt keiner gerichtlichen Kontrolle, sondern es muss lediglich vom Arbeitnehmer glaubhaft dargelegt werden, dass für ihn ein Gewissenskonflikt entsteht. Lässt die Gewissensentscheidung des Arbeitnehmers die Übernahme oder Ausführung bestimmter Arbeiten nicht zu, ist er gem. § 297 BGB außerstande, die geschuldete Leistung zu erbringen. Es kommt dann nur eine personenbedingte Kündigung in Betracht, falls eine anderweitige Einsatzmöglichkeit des Arbeitnehmers nicht besteht (BAG v. 20.12.1984, EzA § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 16; in dem dort entschiedenen Fall ging es um die Kündigung eines Druckers, der sich geweigert hatte, Prospekte und Werbebriefe mit nationalsozialistischem Inhalt zu drucken).
Rz. 450
Eine Pflichtenkollision kann auch aus religiösen Gründen entstehen, wenn der Arbeitnehmer z.B. Arbeiten zurückweist, die mit seinem Glauben unvereinbar sind, oder wenn es gegen seine religiösen Pflichten verstößt, an einem Feiertag zu arbeiten (vgl. hierzu LAG Hamm v. 18.1.2002 – 5 Sa 1782/01, NZA 2002, 675; Grabau, BB 1991, 1257; Adam, NZA 2003, 1375). Der Arbeitgeber muss bei der Ausübung seines Weisungsrechts auf einen ihm offenbarten Glaubenskonflikt Bedacht nehmen. Er darf dem Arbeitnehmer bei verfassungskonformer Auslegung und Anwendung von § 106 S. 1 GewO regelmäßig keine Arbeit zuweisen, die diesen in einen nachvollziehbar dargelegten, ernsthaften und unüberwindbaren Glaubenskonflikt brächte. Etwas anderes kann dann gelten, wenn entgegenstehende Grundrechte oder Verfassungsaufträge – sei es auch nur vorübergehend – ein Hintenanstellen der Glaubensüberzeugungen geboten erscheinen lassen (BAG v. 24.2.2011 – 2 AZR 636/09, NZA 2011, 1087).
Will ein Arbeitnehmer geltend machen, dass eine arbeitgeberseitige Weisung seine Glaubensüberzeugung verletzt und deshalb von ihm nicht zu beachten ist, muss er plausibel darlegen, dass seine Haltung auf einer für ihn zwingenden Verhaltensregel beruht, gegen die er nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte. Gelingt ihm dies nicht, kommt nach den Grundsätzen der sog. beharrlichen Arbeitsverweigerung eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber in Betracht (LAG Hamm v. 20.4.2011, NZA-RR 2011, 640). In dem vom LAG Hamm entschiedenen Fall hatte der Mitarbeiter in der Bestellannahme eines Teleshoppingsenders sich nach jedem Kundentelefonat mit den Worten "Jesus hat Sie lieb, vielen Dank für Ihren Einkauf … und einen schönen Tag" verabschiedet. Der Hinweis auf Jesus war ihm aber von seinen Vorgesetzten ausdrücklich untersagt worden.
Zwar muss der Arbeitgeber bei der Ausübung seines Arbeitgeberdirektionsrechts nach § 106 S. 1 GewO die durch Art. 4 Abs. 1 GG und Art. 4 Abs. 2 GG grundrechtlich geschützte Glaubensfreiheit des Arbeitnehmers beachten und auf einen dem Arbeitgeber offenbarten Glaubens- oder Gewissenskonflikt Rücksicht nehmen (BAG v. 10.10.2002 – 2 AZR 472/01, NZA 2003, 483). Durch Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG wird die Glaubens- und Religionsfreiheit für Jedermann verfassungsrechtlich geschützt. Die Glaubensfreiheit umfasst nicht nur die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, sondern auch die äußere Freiheit, den Glauben zu manifestieren, zu bekennen und zu verbreiten. Dazu gehört auch das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln (BVerfGE 32, 98). Das in Rede stehende Verhalten muss nicht allgemein von den Gläubigen geteilt werden. Für eine zulässige Berufung auf Art. 4 GG kommt es nur darauf an, dass das Verhalten überhaupt von einer wirklich religiösen Überzeugung getragen und nicht anders motiviert ist. Anderenfalls würden die Gerichte eine Bewertung von Glaubenshaltungen oder die Prüfung von theologischen Lehren vornehmen müssen, die sie weder leisten können noch dürfen (BAG v. 10.10.2002 – 2 AZR 472/01, NZA 2003, 483; LAG Schleswig-Holstein v. 20.1.2009, BeckRS 2009, 58812; LAG Hamm v. 8.11.2007, BeckRS 2008, 50009). Das hat allerdings nicht zur Folge, dass jede Weisung i.R.d. Arbeitgeberdirektionsrechts, die eine Berührung mit einer...