Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 217
Auch bei einer Kündigung wegen häufiger Kurzzeiterkrankungen ist zu prüfen, ob die Beeinträchtigungen vom Arbeitgeber billigerweise nicht mehr hingenommen werden müssen. Zu berücksichtigen sind dabei die Umstände, die auch im Rahmen einer Interessenabwägung bei einer Kündigung wegen lang andauernder Krankheit zu beachten sind, (vgl. hierzu Rdn 184).
Rz. 218
Insb. bei Kurzzeiterkrankungen können wirtschaftliche Beeinträchtigungen aufgrund häufiger Lohnfortzahlungskosten eine besondere Rolle spielen. In diesem Zusammenhang ist jedoch i.R.d. Interessenabwägung zu beachten, dass bei Beeinträchtigungen des Arbeitgebers, die allein auf Entgeltfortzahlungskosten beruhen, die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers nur dann unzumutbar ist, wenn die Entgeltfortzahlungskosten "außergewöhnlich" hoch sind. Das BAG hat dies in einem Fall bejaht, in dem Entgeltfortzahlungskosten für durchschnittlich 60 Arbeitstage zu erwarten waren (BAG v. 5.7.1990 – 2 AZR 154/90, AP Nr. 26 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit). In einem anderen Fall hat das BAG es als "erheblich" angesehen, dass die 6-Wochen-Grenze um 50 % überschritten wurde und somit krankheitsbedingte Fehlzeiten von durchschnittlich 45 Tagen zu erwarten waren (BAG v. 6.9.1989 – 2 AZR 19/89, AP Nr. 21 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit). In diesem Fall war dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der weiteren Umstände des Einzelfalles nicht zuzumuten.
Im Rahmen der Interessenabwägung können auch für Arbeitnehmer, die ordentlich unkündbar sind, u.a. die Dauer seiner zunächst störungsfreien Betriebszugehörigkeit, eine betriebliche (ggf. sogar schuldhafte) Veranlassung der Erkrankungen, welche die Fehlzeiten bedingen, das Lebensalter des Arbeitnehmers, mögliche Unterhaltspflichten sowie schlechte Arbeitsmarktchancen sprechen (BAG v. 25.4.2018 – 2 AZR 6/18, Rn 40). Gegen den Arbeitnehmer kann u.a. sprechen, dass er – unter Einschluss der mit Entgeltfortzahlung belasteten Fehltage – insgesamt keine nennenswerte Arbeitsleistung mehr erbringt (BAG v. 25.4.2018 – 2 AZR 6/18, Rn 40; BAG v. 12.1.2006 – 2 AZR 242/05, Rn 27) bzw. seine Arbeitsleistung kaum noch wirtschaftlich sinnvoll zu planen ist und/oder dass das in seinem Kernbereich gestörte Arbeitsverhältnis bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze noch über einen langen Zeitraum fortzusetzen wäre und sich damit die Entgeltfortzahlungskosten "über die Jahre" aufaddieren würden (BAG v. 25.4.2018 – 2 AZR 6/18, Rn 40). Hingegen fällt die Interessenabwägung nicht in jedem Fall zugunsten des Arbeitnehmers aus, solange er dem Arbeitgeber in Zukunft voraussichtlich zu deutlich mehr als der Hälfte seiner Gesamtarbeitszeit zur Verfügung stehen wird (BAG v. 25.4.2018 – 2 AZR 6/18, Rn 40).
Die vorstehenden Grundsätze genügen den vom EuGH aufgestellten Vorgaben an die einseitige Beendigung von Arbeitsverhältnissen in solchen Fällen, in denen die krankheitsbedingten Fehlzeiten auf eine Behinderung des Arbeitnehmers i.S.d. RL 2000/78/EG zurückzuführen sind (BAG v. 25.4.2018 – 2 AZR 6/18, Rn 41; vgl. dazu EuGH v. 18.1.2018 – C-270/16 – [Ruiz Conejero] Rn 44 ff.). Mit der Möglichkeit, ein Arbeitsverhältnis außerordentlich mit Auslauffrist kündigen zu können, wenn der Leistungsaustausch dauerhaft in seinem Kernbereich gestört ist, wird in angemessener Weise das legitime Ziel verfolgt, übermäßigen Belastungen des Arbeitgebers durch wiederkehrende krankheitsbedingte Fehlzeiten zu begegnen (BAG v. 25.4.2018 – 2 AZR 6/18, Rn 41). Durch die hohen Voraussetzungen, die an die Fehlzeitenprognose und das Ausmaß der Beeinträchtigung betrieblicher Interessen gestellt werden, sowie durch die sich ggf. aus § 167 Abs. 2 SGB IX ergebenden Anforderungen und das Erfordernis einer umfassenden Interessenabwägung ist gewährleistet, dass die Beendigung des Arbeitsverhältnisses tatsächlich ultima ratio bleibt (BAG v. 25.4.2018 – 2 AZR 6/18, Rn 4; zu den deutlich geringeren Anforderungen an die soziale Rechtfertigung einer ordentlichen Kündigung nach § 1 Abs. 2 KSchG ebenso Bayreuther, EuZW 2018, 212 f.). Das gilt umso mehr, wenn die besonderen verfahrensrechtlichen Absicherungen berücksichtigt werden, die ggf. für schwerbehinderte oder ihnen gleichgestellte Arbeitnehmer nach §§ 168 ff. und § 178 SGB IX hinzutreten (BAG v. 25.4.2018 – 2 AZR 6/18, Rn 41). Überdies ist in Bezug auf die Fallgruppe "gravierende Äquivalenzstörung allein durch Entgeltfortzahlungskosten" zu beachten, dass das auf der zweiten Prüfungsstufe geforderte – sehr hohe – Maß an zu erwartenden entgeltfortzahlungspflichtigen Fehltagen pro Jahr gem. § 3 Abs. 1 EFZG regelmäßig nicht erreicht sein wird, wenn die häufigen Fehlzeiten auf ein Grundleiden des Arbeitnehmers zurückzuführen sind, das zugleich eine Behinderung im unionsrechtlichen Sinn darstellt (BAG v. 25.4.2018 – 2 AZR 6/18, Rn 41).
Rz. 219
Für die Zumutbarkeit der Belastung für den Arbeitgeber ist außerdem von Bedeutung, wie sich die Fehlzeiten des gekündigten Arbeitnehmers im Vergleich mit Arbeitnehmern darstellen...