Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 1122
Der besondere Kündigungsschutz tritt bereits dann ein, wenn die Behinderung objektiv vorhanden ist und auch die weiteren Voraussetzungen des § 151 SGB IX erfüllt sind. Auf den subjektiven Kenntnisstand des Arbeitgebers kommt es grds. nicht an. Wird die Kündigung ohne Zustimmung des Integrationsamtes ausgesprochen, ist sie unwirksam, wenn die Voraussetzungen des § 151 SGB IX in der Person des zu Kündigenden zum Zeitpunkt des Zuganges der Kündigung vorliegen. Ob der Arbeitgeber von der Schwerbehinderteneigenschaft Kenntnis hatte oder später von ihr erfährt, ist hinsichtlich des besonderen Kündigungsschutzes unerheblich.
Rz. 1123
Dies ist aber fraglich, wenn der Arbeitgeber nicht weiß, dass der zu kündigende Arbeitnehmer Schwerbehinderter ist und der Arbeitnehmer sich nach der Kündigung nicht unverzüglich auf den besonderen Kündigungsschutz nach dem SGB IX beruft, dies aber dann später im Kündigungsschutzprozess darlegt oder gar in der Konstellation, dass der Arbeitnehmer nach Zugang der Kündigung ein Anerkennungsverfahren einleitet und die Eigenschaft der Schwerbehinderung rückwirkend für einen Zeitpunkt vor Zugang der Kündigung festgestellt wird.
Rz. 1124
Das BAG hat hierzu in mehreren Entscheidungen (BAG v. 23.2.1978 – 2 AZR 214/77, DB 1978, 1549; BAG v. 19.4.1979 – 2 AZR 469/78, DB 1979, 1560; BAG v. 27.2.1987 – 7 AZR 632/85, NZA 1988, 429; BAG v. 16.8.1991 – 2 AZR 241/90, NZA 1992, 23) im Hinblick auf eine außerordentliche oder ordentliche Kündigung folgende für die Praxis maßgebliche Regeln aufgestellt:
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Der Arbeitgeber bedarf zur Kündigung ggü. einem schwerbehinderten Arbeitnehmer dann nicht der vorherigen Zustimmung der Hauptfürsorgestelle nach seinerzeit § 15 SchwbG (jetzt § 168 SGB IX), wenn bis zur Kündigung der Arbeitnehmer weder einen Bescheid (seinerzeit i.S.d. § 4 SchwbG jetzt § 152 SGB IX) über seine Schwerbehinderteneigenschaft erhalten, noch wenigstens einen entsprechenden Antrag beim Versorgungsamt gestellt hatte. |
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Sind diese Voraussetzungen im Zeitpunkt der Kündigung erfüllt, dann steht dem schwerbehinderten Menschen der volle Kündigungsschutz im Grundsatz auch dann zu, wenn der Arbeitgeber von der Schwerbehinderteneigenschaft oder der Antragstellung nichts wusste. Die ohne vorherige Zustimmung des Integrationsamtes erklärte Kündigung ist dann seinerzeit gem. § 15 SchwbG (jetzt § 168 SGB IX) i.V.m. § 134 BGB nichtig. |
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Hat der Arbeitgeber zzt. der Kündigung keine Kenntnis, dass der Arbeitnehmer die Feststellung beim Versorgungsamt beantragt hatte oder diese Feststellung bereits getroffen war, dann ist der Arbeitnehmer allerdings gehalten, nach Zugang der Kündigung innerhalb einer angemessenen Frist, die im Fall der ordentlichen als auch der außerordentlichen Kündigung i.d.R. einen Monat beträgt, ggü. dem Arbeitgeber seine bereits festgestellte oder zur Feststellung beantragte Schwerbehinderteneigenschaft geltend zu machen, wenn er sich den besonderen Kündigungsschutz erhalten will. Unterlässt der Arbeitnehmer dies, so ist die Kündigung jedenfalls nicht bereits wegen der seinerzeit §§ 15 ff. SchwbG (jetzt §§ 168 ff. SGB IX) unwirksam. Der Arbeitnehmer muss nach Einführung der einheitlichen Klagefrist des § 4 S. 1 KSchG auch für die Mitteilung seiner Schwerbehinderteneigenschaft ggü. dem Arbeitgeber eine 3-Wochen-Frist einhalten (BAG v. 13.2.2008 – 2 AZR 864/06, NZA 2008, 1055, BAG v. 11.12.2008 – 2 AZR 395/07, DB 2009, 966). Der schwerbehinderte Arbeitnehmer kann sich deshalb auf den Sonderkündigungsschutz berufen, wenn der Arbeitgeber zum Zeitpunkt der Kündigung keine Kenntnis von der Schwerbehinderteneigenschaft hatte und der Arbeitnehmer innerhalb der Frist des § 4 KSchG darüber informiert. Hinzuzurechnen ist eine Zeitspanne innerhalb derer der Arbeitnehmer den Zugang der Mitteilung beim Arbeitgeber bewirken kann. Dann ist vom Arbeitgeber die Anhörung zum Betriebsrat zu ergänzen, wenn sich vor Ausspruch der Kündigung der dem Betriebsrat unterbreitete Sachverhalt in wesentlichen Punkten zugunsten des Arbeitnehmers geändert hat (BAG v. 22.9.2016 – 2 AZR 700/15). |
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Überschreitet der Arbeitnehmer diese Frist, so verwirkt er grds. den Sonderkündigungsschutz. Die Verwirkung setzt allerdings voraus, dass der Arbeitgeber die Schwerbehinderung bzw. die Gleichstellung oder den Antrag nicht kennt und deshalb mit der Zustimmungspflichtigkeit der Kündigung nicht rechnen kann. Dabei reicht es aus, dass der Arbeitgeber aus einer Stellungnahme des Betriebsrats nach § 102 BetrVG von der Schwerbehinderteneigenschaft Kenntnis erlangt (BAG v. 20.1.2005 – 2 AZR 675/03, NZA 2005, 689). Eine Unterrichtung hierüber durch die zuständige Behörde soll allerdings nicht ausreichend sein (BAG v. 1.3.2007 – 2 AZR 650/05, NZA 2008, 302). Der Arbeitnehmer muss sich vielmehr selbst auf den Sonderkündigungsschutz berufen. |
Rz. 1125
Die vorgenannte Regelfrist von einem Monat beginnt mit dem Zugang der Kündigung. Es handelt sich bei der Mitteilung an den Arbeitgeber um eine rechtsgeschäftsähnliche Handlung, bei der di...