Rz. 723

Fraglich ist, ob bei Wegfall des Beschäftigungsbedarfes für ordentlich kündbare Arbeitnehmer auch diejenigen vergleichbaren Arbeitnehmer in die Sozialauswahl einzubeziehen sind, die tarifvertraglich unkündbar sind. Hintergrund dieser Problematik ist, dass tarifvertragliche Regelungen die gesetzliche Wertung des § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG "auf den Kopf stellen" können (BAG v. 5.6.2008, EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 81). Eine solche Regelung findet sich etwa in § 4.4 MTV Metallindustrie Nordwürttemberg/Nordbaden. Danach kann einem Arbeitnehmer nach Vollendung des 53. Lebensjahres und einer Betriebszugehörigkeit von mindestens drei Jahren nur noch aus wichtigem Grund gekündigt werden. Diese Regelung kann bspw. – wenn man davon ausgeht, dass tariflich unkündbare Arbeitnehmer nicht in die Sozialauswahl einbezogen werden – dazu führen, dass ein 53-jähriger Arbeitnehmer, der erst seit drei Jahren beschäftigt ist und keine Unterhaltspflichten hat, aufgrund der tarifvertraglichen Regelung aus der Sozialauswahl ausscheidet, während ein 52-jähriger seit 35 Jahren im Betrieb beschäftigter Arbeitnehmer mit mehrfachen Unterhaltspflichten zur Kündigung ansteht (vgl. BAG v. 5.6.2008, EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 81). Solche Wirkungen sind – auch wenn es sich bei ihnen lediglich um einen Reflex der Unkündbarkeitsregelung handeln mag – mit Blick auf die gesetzlichen Vorgaben zur Sozialauswahl in § 1 Abs. 3 bis Abs. 5 KSchG sachlich nicht zu rechtfertigen (BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 295/12, Rn 49). Ihre Folge ist eine unverhältnismäßige Verkürzung des Kündigungsschutzes der von der Tarifregelung nicht erfassten Arbeitnehmer (BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 295/12, Rn 49). Wenn in Fällen betrieblich bedingter Kündigungen eine Auswahl unter mehreren Arbeitnehmern zu treffen ist, gebietet überdies Art. 12 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip ein gewisses Maß an sozialer Rücksichtnahme (BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 295/12, Rn 49). Insbesondere darf der Arbeitgeber bei seinem Kündigungsentschluss ein durch langjährige Mitarbeit erdientes Vertrauen in den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses nicht unberücksichtigt lassen (BVerfG v. 27.1.1998 – 1 BvL 15/87, zu B I 3 b cc der Gründe, BVerfGE 97, 169; BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 295/12, Rn 49; BAG v. 28.10.2010 – 2 AZR 392/08, Rn 38; BAG v. 6.2.2003 – 2 AZR 672/01, zu II 2 a der Gründe, BAGE 104, 308). Dies müssen die Tarifvertragsparteien berücksichtigen (BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 295/12, Rn 49).

 

Rz. 724

Tarifliche Unkündbarkeitsregelungen müssen deshalb, um sich in Auswahlsituationen als angemessen i.S.d. § 10 S. 1 AGG sowie gesetzes- und verfassungskonform i.S.v. § 1 Abs. 3 KSchG, Art. 12 Abs. 1 GG zu erweisen, gewährleisten, dass sie zumindest grobe Auswahlfehler vermeiden (BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 295/12, Rn 50; erwogen bereits in BAG v. 5.6.2008 – 2 AZR 907/06, Rn 31; Hako-KSchR/Gallner/Mestwerdt, § 1 Rn 851; MüKo-BGB/Thüsing, § 10 AGG Rn 42; Wendeling-Schröder, NZA 2007, 1399). Mit dieser Anforderung ist einerseits sichergestellt, dass die sozialen Belange ordentlich kündbarer Arbeitnehmer nicht vernachlässigt werden. Dem Lebensalter kann dann in einer Auswahlsituation keine "absolute" Bedeutung mehr zukommen; andere Kriterien behalten ihre Relevanz (BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 295/12, Rn 50). Dadurch wird andererseits der Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien Rechnung getragen, die festlegen, wann Arbeitnehmer aufgrund ihres Alters eines erhöhten Schutzes bedürfen (BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 295/12, Rn 50; Bröhl, Die außerordentliche Kündigung mit Auslauffrist, S. 213 f.). Der Maßstab orientiert sich an dem Spielraum, den der Gesetzgeber den Sozialpartnern in § 1 Abs. 4 KSchG einräumt (BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 295/12, Rn 50). Danach können kollektivrechtliche Auswahlrichtlinien nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden. Zwar regeln Unkündbarkeitsbestimmungen unmittelbar nur das Verhältnis zwischen dem Arbeitgeber und einzelnem Arbeitnehmer. Sie kommen in ihrer Wirkung aber zumindest faktisch Auswahlrichtlinien gleich (BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 295/12, Rn 50). Dementsprechend hatte § 10 S. 3 Nr. 7 AGG a.F. individual- und kollektivrechtliche Unkündbarkeitsregelungen zwar ausdrücklich für zulässig erklärt, aber nur "soweit dadurch nicht der Kündigungsschutz anderer Beschäftigter im Rahmen der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 des Kündigungsschutzgesetzes grob fehlerhaft gemindert wird". Die Vorschrift wurde im Dezember 2006 nur deshalb aufgehoben (BGBl I, 2742), weil der Gesetzgeber sie wegen § 2 Abs. 4 AGG für unnötig hielt. Die ihr zugrundeliegende gesetzgeberische Wertung findet in § 1 Abs. 4 KSchG aber weiterhin ihren Ausdruck (BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 295/12, Rn 50).

 

Rz. 725

Derartige Anwendungsgrenzen können – wenn sie nicht ausdrücklich vorgesehen sind – tarifvertraglichen Regelungen dennoch inhärent sein. Tarifnormen sind, wenn möglich, so auszulegen und anzuwenden, dass sie nicht in Widerspruch zu höherrangigem Recht geraten (BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 295/...

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