Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
aa) Negative Gesundheitsprognose
Rz. 188
Ist es dem Arbeitnehmer dauerhaft unmöglich, seine geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen, wird hierdurch das Arbeitsverhältnis auf Dauer erheblich gestört. Eine negative Prognose hinsichtlich künftiger Krankheitszeiten ist daher nach der Rspr. des BAG nicht mehr erforderlich (BAG v. 21.2.1985 – 2 AZR 72/84, Rzk I 5 g Nr. 10). Dies folgt aus dem allgemeinen Gedanken des § 326 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 BGB n.F. (bis 31.12.2001: § 323 Abs. 1 BGB a.F.). Kann eine Vertragspartei – hier der Arbeitnehmer – seine Leistung wegen Unmöglichkeit nicht mehr erbringen, so wird die andere Vertragspartei – hier der Arbeitgeber – von ihrer Gegenleistung frei (Gotthardt/Greiner, DB 2002, 2106, 2107). Das Arbeitsverhältnis als Austauschverhältnis von Leistung und Gegenleistung wird damit sinnentleert. Es besteht quasi nur noch als "leere Hülle" (BAG v. 28.2.1990 – 2 AZR 401/89, AP Nr. 25 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit).
bb) Betriebliche und/oder wirtschaftliche Beeinträchtigung
Rz. 189
Infolgedessen ist bei krankheitsbedingter dauernder Leistungsunfähigkeit auch ohne Weiteres von einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen auszugehen (BAG v. 19.4.2007 – 2 AZR 239/06, EzA KSchG § 1 Krankheit Rn 53; BAG v. 12.7.2007 – 2 AZR 716/06, EzA SGB IX § 84 Rn 3).
Rz. 190
Nach der Rspr. des BAG besteht zwar eine betriebliche Beeinträchtigung in solchen Fällen ausnahmsweise nicht, wenn die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers für den Arbeitgeber überhaupt keinen Wert darstellt, d.h. überflüssig ist (BAG v. 28.2.1990 – 2 AZR 401/89, EzA KSchG § 1 Personenbedingte Kündigung Rn 5). Für einen derartigen Ausnahmefall wäre jedoch der Arbeitnehmer darlegungs- und beweispflichtig (v. Hoyningen-Huene/Linck, § 1 KSchG Rn 404). I.Ü. dürfte bei einer solchen Fallgestaltung i.d.R. ein betriebsbedingter Kündigungsgrund vorliegen (so auch KR/Griebeling, § 1 KSchG Rn 376).
Rz. 191
Nach allgemeinen Grundsätzen hat jedoch der Arbeitgeber immer zu prüfen, ob er den Arbeitnehmer auf einem anderen Arbeitsplatz beschäftigen kann, damit er dort seine Arbeitsleistung erbringt. Ggf. muss der Arbeitgeber einen leidensgerechten Arbeitsplatz freimachen, falls er den auf diesem Arbeitsplatz beschäftigten Arbeitnehmer i.R.d. Arbeitgeberdirektionsrechtes auf einen anderen freien Arbeitsplatz umsetzen oder versetzen kann. Ist die Versetzung mitbestimmungspflichtig, muss der Arbeitgeber jedoch kein gerichtliches Zustimmungsersetzungsverfahren durchführen, falls der Betriebsrat seine Zustimmung verweigert).
cc) Interessenabwägung
Rz. 192
Falls der Arbeitnehmer dauerhaft leistungsunfähig ist, hat er grds. kein schützenswertes Interesse an der Fortsetzung seines Arbeitsverhältnisses. Regelmäßig überwiegt dann das Interesse des Arbeitgebers an einer Beendigung des sinnentleerten Vertragsverhältnisses (BAG v. 28.2.1990 – 2 AZR 401/89, AP Nr. 25 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit). Auch besondere persönliche Umstände aufseiten des Arbeitnehmers rechtfertigen i.d.R. keine abweichende Beurteilung (BAG v. 21.2.1985 – 2 AZR 72/84, RzK I 5 g Nr. 10). In der genannten Entscheidung hat das BAG einem 50 Jahre alten, ausländischen Arbeitnehmer, der Invalide und einem studierenden Kind zur Unterhaltszahlung verpflichtet war, die Berufung auf einen Ausnahmefall abgelehnt.
Rz. 193
Steht die dauerhafte Leistungsunfähigkeit des Arbeitnehmers fest, ist dieser aber aus tariflichen Gründen ordentlich nicht mehr kündbar, kommt unter Umständen eine außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grund infrage – wobei i.d.R. eine soziale Auslauffrist einzuhalten ist. Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Krankheit kann als wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB in Betracht kommen (BAG v. 20.3.2014 – 2 AZR 288/13, Rn 17). Dem Arbeitgeber ist jedoch in der Regel die Einhaltung der Kündigungsfrist zuzumuten, und bereits eine ordentliche Kündigung wegen Arbeitsunfähigkeit unterliegt einem strengen Maßstab (BAG v. 20.3.2014 – 2 AZR 288/13, Rn 17). Eine außerordentliche Kündigung kommt daher nur in eng begrenzten Fällen in Betracht, etwa wenn die ordentliche Kündigung aufgrund tarifvertraglicher Vereinbarungen ausgeschlossen ist (BAG v. 23.1.2014 – 2 AZR 582/13, Rn 26; BAG v. 18.10.2000 – 2 AZR 627/99, zu II 3 der Gründe, BAGE 96, 65). Das Arbeitsverhältnis stellt ein auf stetigen Leistungsaustausch gerichtetes Rechtsverhältnis dar (BAG v. 25.11.2010 – 2 AZR 984/08, BAGE 136, 213). Ist der Leistungsaustausch auf Dauer umfassend gestört, weil der Arbeitnehmer aufgrund seiner Erkrankung auf unabsehbare Zeit keine Arbeitsleistung mehr erbringen wird, kann eine Kündigung aus wichtigem Grund gerechtfertigt sein. Deren Unwirksamkeit kann sich dann in der Regel nur noch aus der Abwägung der wechselseitigen Interessen ergeben (BAG v. 20.3.2014 – 2 AZR 288/13, Rn 18; BAG 12.4.2002 – 2 AZR 148/01, zu II 5 c der Gründe, BAGE 101, 39). Eine außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist kommt in Betracht, wenn der wichtige Grund i.S.v. § 626 Abs. 1 BGB darin liegt, dass der Arbeitgeber wegen des tariflichen Ausschlusses der ordentlichen Kündigung andernfalls gezwungen wäre, für Jahre an einem sin...