Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 402
Nach Maßgabe des § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis von jedem Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund deren dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht zugemutet werden kann.
Rz. 403
Die außerordentliche, verhaltensbedingte Kündigung unterscheidet sich daher von der ordentlichen, verhaltensbedingten Kündigung namentlich dadurch, dass es dem Kündigenden – in der Praxis ist das in der weit überwiegenden Anzahl der Fälle der Arbeitgeber – aufgrund der Umstände nicht mehr zumutbar ist, den Arbeitsvertrag bis zu seinem Ende aufrechtzuerhalten.
Rz. 404
Bei der außerordentlichen Kündigung gem. § 626 Abs. 1 BGB ist zunächst zu prüfen, ob ein bestimmter Sachverhalt ohne die besonderen Umstände des Einzelfalles an sich geeignet ist, als wichtiger Kündigungsgrund anerkannt zu werden (BAG v. 29.7.2016 – 2 AZR 47/16, Rn 17). Liegt ein solcher wichtiger Kündigungsgrund vor, ist auf zweiter Stufe zu prüfen, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile noch bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist zuzumuten ist (BAG v. 29.7.2016 – 2 AZR 47/16, Rn 17; BAG v. 17.11.2016 – 2 AZR 730/15, Rn 20; BAG v. 2.3.1989, NZA 1989, 755; BAG v. 17.5.1984, NZA 1985, 62).
Rz. 405
Ein wichtiger Grund für eine fristlose Kündigung i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB liegt auch im Verhältnis zu einem Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis ordentlich nicht gekündigt werden kann, dann vor, wenn es dem Arbeitgeber unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls nach einem insoweit anzulegenden objektiven Maßstab nicht zuzumuten ist, den Arbeitnehmer auch nur bis zum Ablauf der (fiktiven) ordentlichen Kündigungsfrist weiter zu beschäftigen (BAG v. 29.7.2016 – 2 AZR 47/16, Rn 18). In diesem Fall wäre eine außerordentliche Kündigung auch dann gerechtfertigt, wenn die ordentliche Kündigung nicht ausgeschlossen wäre (BAG v. 29.7.2016 – 2 AZR 47/16, Rn 18; BAG v. 13.5.2015 – 2 AZR 531/14, Rn 42).
Rz. 406
I.R.d. Interessenabwägung kann zugunsten des Arbeitnehmers nicht ohne Weiteres auf die Möglichkeit verwiesen werden, der Arbeitgeber könne den Arbeitnehmer bis zum Ablauf der Kündigungsfrist freistellen. Die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist muss beiden Vertragsteilen zumutbar sein. Zur Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses gehört aber grds. auch die tatsächliche Beschäftigung des Arbeitnehmers und nicht nur die Verpflichtung zur Zahlung der Vergütung bei Freistellung von der Arbeitsleistungspflicht (BAG v. 11.3.1999 – 2 AZR 507/98, BB 1999, 1166).
Rz. 407
Unabdingbare dritte Voraussetzung für die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung ist schließlich die Einhaltung der zweiwöchigen Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB. Es handelt sich dabei um eine Konkretisierung der Verwirkung des Kündigungsgrundes. Nach Ablauf der Ausschlussfrist von zwei Wochen wird unwiderlegbar vermutet, dass dem Kündigungsberechtigten die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zumutbar ist. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, zu dem der Kündigungsberechtigte Kenntnis von denjenigen Tatsachen und Umständen erhält, die den wichtigen Kündigungsgrund bilden. Dies ist der Fall, sobald er eine zuverlässige und hinreichend vollständige Kenntnis der einschlägigen Tatsachen hat, die ihm die Entscheidung darüber ermöglicht, ob er das Arbeitsverhältnis fortsetzen soll oder nicht (BAG v. 1.6.2017 – 6 AZR 720/15, Rn 61; BAG v. 20.10.2016 – 6 AZR 471/15, Rn 51; BAG v. 16.7.2015 – 2 AZR 85/15, Rn 54). Handelt es sich bei dem Arbeitgeber um eine juristische Person, ist grundsätzlich die Kenntnis des gesetzlich oder satzungsgemäß für die Kündigung zuständigen Organs maßgeblich (BAG v. 27.2.2020 – 2 AZR 570/19, Rn 32; BAG v. 27.6.2019 – 2 ABR 2/19, Rn 19). Sind für den Arbeitgeber mehrere Personen gemeinsam vertretungsberechtigt, genügt grundsätzlich die Kenntnis schon eines der Gesamtvertreter (BAG v. 27.2.2020 – 2 AZR 570/19, Rn 32; BAG v. 1.6.2017 – 6 AZR 720/15, Rn 61; BAG v. 18.6.2015 – 2 AZR 256/14, Rn 48). Neben den Mitgliedern der Organe von juristischen Personen und Körperschaften gehören zu den Kündigungsberechtigten auch die Mitarbeiter, denen der Arbeitgeber das Recht zur außerordentlichen Kündigung übertragen hat (BAG v. 27.2.2020 – 2 AZR 570/19, Rn 32; BAG v. 27.6.2019 – 2 ABR 2/19, Rn 19; BAG v.16.7.2015 – 2 AZR 85/15, Rn 55). Die Kenntnis anderer Personen ist für die Zwei-Wochen-Frist grundsätzlich unbeachtlich (BAG v. 27.2.2020 – 2 AZR 570/19, Rn 32). Dies gilt selbst dann, wenn ihnen Vorgesetzten- oder Aufsichtsfunktionen übertragen worden sind (BAG v. 27.2.2020 – 2 AZR 570/19, Rn 32). Nu...