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In Fällen, in denen eine Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nicht erfolgreich war, ist es bisweilen sinnvoll und mitunter sogar ein Gebot der anwaltlichen Sorgfaltspflicht, den Mandanten über die Möglichkeit der Individualbeschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) aufzuklären. Dieser kann die Entscheidung des BVerfG noch einmal am Maßstab der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) überprüfen. Zwar sind die Erfolgschancen vor dem EGMR ebenso gering wie die vor dem BVerfG; der Aufwand einer Individualbeschwerde vor dem EGMR kann sich in bestimmten Fällen dennoch lohnen, geht doch der europäische Menschenrechtsschutz teilweise über die Grundrechtsgarantien der deutschen Verfassung hinaus. Eine dynamische Interpretation der Konvention durch den EGMR gewährleistet, dass die darin verbürgten Gewährleistungen dem gesellschaftlichen Zeitgeist entsprechend ausgelegt werden. Dies kann man mit guten Gründen kritisieren. Für die Fortentwicklung des Rechtsschutzes im Sinne des Mandanten ist dieser dynamische Ansatz jedoch durchaus vorteilhaft.
Die EMRK ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der am 4.11.1950 unter der Ägide des Europarats beschlossen wurde und am 3.9.1953 in Kraft trat. Derzeit haben 47 Staaten die EMRK ratifiziert, darunter auch die Bundesrepublik Deutschland. Mit Inkrafttreten des 11. Protokolls im Jahr 1998 wurde der EGMR zur obligatorischen, ständigen und alleinigen Kontrollinstanz für Individualbeschwerden (Art. 19 EMRK) mit Sitz in Straßburg. Der EGMR besteht aus 47 hauptamtlichen Richtern und Richterinnen, die für neun Jahre (Art. 23 Abs. 1 S. 1 EMRK) von jeweils einem Vertragsstaat vorgeschlagen und von der Parlamentarischen Versammlung gewählt werden (Art. 20, 22 EMRK). Die Richter und Richterinnen entscheiden unabhängig und sind ihren Entsendestaaten gegenüber nicht weisungsgebunden (Art. 21 Abs. 2 EMRK).
Die Verfahrenszahlen des EGMR sind in den letzten 25 Jahren kontinuierlich angestiegen. So waren im April 2021 65.100 Individualbeschwerden anhängig. Alle Reformbestrebungen aus der jüngeren Zeit zielten daher auch darauf ab, die Arbeitslast der Richter und Richterinnen zu verringern sowie die Verfahrensdauer vor dem EGMR zu verkürzen, um letztlich die Effektivität des europäischen Rechtsschutzsystems zu stärken. Ob die Einführung des Gutachtenverfahrens nach Inkrafttreten des Protokolls Nr. 16 zur EMRK am 1.8.2018, das Ähnlichkeiten mit dem Vorlageverfahren gemäß Art. 267 AEUV zum EuGH aufweist, die Fallzahlen mittel- und langfristig verringern wird, bleibt abzuwarten.