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Die Einlegung der Individualbeschwerde hat keine aufschiebende Wirkung. Art. 39 VerfO sieht daher für Ausnahmesituationen Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes vor. Typische Ausnahmen sind Fälle drohender Ausweisung und Auslieferung. Voraussetzungen für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes sind die Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsschutzmöglichkeiten, inklusive der des vorläufigen Rechtsschutzes, die Gefahr eines irreversiblen und besonders schweren Schadens, das unmittelbare Bevorstehen des Schadens und schließlich die hohe Wahrscheinlichkeit einer Konventionsverletzung, wenn der einstweilige Rechtsschutz unterbliebe. Obgleich dem Wortlaut nach der vorläufige Rechtsschutz nur schwach ausgeprägt ist, hat der Gerichtshof entschieden, dass die von ihm angeordneten vorläufigen Maßnahmen für die Mitgliedstaaten verbindlich sind. Dies wurde in der Izmir Declaration von den Vertragsstaaten bestätigt.
Antrag auf und Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes regelt eine spezielle praktische Handreichung. In Abweichung von der üblichen Korrespondenzadresse muss ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz direkt an die eigens dafür vorgesehene Faxnummer gerichtet werden: +33 (0)3 88 41 39 00. Eine Antragsstellung per E-Mail ist nicht möglich. Der Antrag auf vorläufige Maßnahmen wird nur im Rahmen eines schriftlichen Verfahrens geprüft. Der EGMR übermittelt seine finale Entscheidung per Fax oder Brief. Ein Rechtsmittel gegen eine ablehnende Entscheidung steht nicht zur Verfügung.
Anordnungsbeispiele:
(1) Der EGMR kann eine Empfehlung aussprechen, die so lange Geltung beansprucht, bis das Urteil i.S.v. Art. 44 Abs. 2 EMRK endgültig rechtskräftig wird. Während der Gerichtshof in der früheren Judikatur noch annahm, dass solche Empfehlungen die Konventionsstaaten nicht binden, vertritt der EGMR nun die Auffassung, dass seine Empfehlungen verbindlich seien und ihre Missachtung das Recht auf Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK beeinträchtige, da der Mitgliedstaat auf diese Weise die wirksame Prüfung der Beschwerde durch den Gerichtshof unterminiere und sich dem Recht des Einzelnen auf eine effektive Einlegung einer Individualbeschwerde entgegenstelle.
(2) Der EGMR kann von den Parteien Auskunft darüber verlangen, welche vorläufigen Maßnahmen getroffen worden sind (Art. 39 Abs. 3 VerfO).
Eine zuständige Kammer oder deren Präsident kann zudem gem. Art. 41 VerfO in besonders dringenden Fällen die vorrangige Behandlung einer Beschwerde anordnen. Die vorrangige Behandlung kann einerseits in Anbetracht des Beschwerdegegenstands erforderlich sein, anderseits wegen des (Gesundheits-)Zustands des Beschwerdeführers geboten sein. Im Jahr 2010 hat der Gerichtshof erstmals eine Übersicht über seine Kriterien der Priorisierung veröffentlicht.