Rz. 28
Die Rechtsbeschwerde ist außerdem zuzulassen, wenn es geboten ist, das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs (nicht aber wegen Verstößen gegen andere Verfahrensgrundsätze, wie z.B. eines Verstoßes gegen das faire Verfahren, OLG Stuttgart zfs 2019, 712) aufzuheben.
Ausschließliches Ziel dieses eigenständigen Zulassungsgrundes ist es, eine ansonsten zulässige Verfassungsbeschwerde zu verhindern (OLG Hamm NZV 2006, 217; OLG Saarbrücken, Beschl. v. 6.4.2010 – Ss (Z) 222/10).
Zuzulassen ist eine Verfassungsbeschwerde jedoch nur, wenn der Betroffene durch die angegriffene Entscheidung besonders schwere Nachteile erleiden würde (§ 93a Abs. 2 lit. b BVerfGG). Solche schweren Nachteile können selbst im Falle eines eintragungspflichtigen Bußgelds dann nicht bejaht werden, wenn ein über den Einzelfall hinausgehendes Interesse an einer Entscheidung nicht besteht (BVerfG, Beschl. v. 24.3.2011 – 1 BvR 143/11).
Die frühere Beschränkung auf eintragungspflichtige Geldbußen (§ 93a Abs. 4 BVerfGG) gilt nach der Reform des Bundesverfassungsgerichtgesetzes jetzt nicht mehr, so dass Verfassungsbeschwerden und damit auch Rechtsbeschwerden ohne Rücksicht auf die Höhe der Geldbuße zulässig sind (OLG Düsseldorf DAR 1999, 276).
Allerdings ist der für die Annahme einer Verfassungsbeschwerde nach § 93a Abs. 2 lit. b BVerfGG maßgebliche besonders schwere Nachteil dann zu verneinen, wenn ein über den Einzelfall hinausgehendes Interesse nicht gegeben ist, sich z.B. zwischenzeitlich die der Verurteilung zugrunde liegende Rechtslage geändert hat (BVerfG, Beschl. v. 24.3.2011 – 1 BvR 143/11).
Rz. 29
Damit gewinnt der früher unbedeutende Zulassungsgrund der Versagung des rechtlichen Gehörs jetzt vor allem bei Verurteilungen zu nicht mehr als 100 EUR Geldbuße an Bedeutung (OLG Karlsruhe NZV 2011, 95; OLG Zweibrücken NZV 2011, 97). So z.B. auch im Falle einer Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG (OLG Bamberg zfs 2008, 413; OLG Hamm DAR 2011, 53; OLG Dresden NZV 2013, 613) oder der Ablehnung des mit der Verhinderung des Verteidigers begründeten Verlegungsantrags (OLG Karlsruhe NZV 2011, 95; OLG Braunschweig NZV 2011, 96).
Eine Versagung des rechtlichen Gehörs liegt z.B. bereits dann vor, wenn das Gericht den Einspruch des Betroffenen verwirft, ohne trotz vorliegendem ärztlichen Attest ausreichend aufgeklärt zu haben, ob dem Betroffenen das Erscheinen in der Hauptverhandlung zuzumuten war (OLG Frankfurt zfs 2004, 42) oder der mit der Verhinderung des Verteidigers begründete Vertagungsantrag abgelehnt worden war (OLG Hamm zfs 2010, 649; OLG Karlsruhe NZV 2011, 95; OLG Oldenburg NZV 2011, 96).
Schließlich ist das rechtliche Gehör auch dann verletzt, wenn im Abwesenheitsverfahren ohne vorherige Information des Betroffenen bzw. des Verteidigers neue Tatsachen in die Hauptverhandlung eingeführt und verwertet werden (OLG Stuttgart zfs 2010, 48) oder in dem gar nicht so seltenen Fall der (irrtümlichen) Einspruchsverwerfung trotz vorausgegangener Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen (OLG Hamm zfs 2011, 411). Das rechtliche Gehör ist des Weiteren verletzt, wenn sich der Richter mit dem im Abwesenheitsverfahren schriftlich gestellten Beweisantrag nicht einmal im Urteil auseinandergesetzt hat (OLG Dresden DAR 2014, 708) oder ihn offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen hat, z.B. einen Beweisantrag mit einer Begründung ablehnt, die gar nicht auf dessen Inhalt eingeht (OLG Oldenburg NZV 2012, 406).
Rz. 30
Ohne die Rechtsbeschwerdemöglichkeit des § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG wären Verurteilungen zu einer Buße von nicht mehr als 100 EUR Buße trotz gröbster formell-rechtlicher Verstöße nicht mehr anzugreifen (OLG Oldenburg NZV 2007, 316).
Rz. 31
Achtung: Sachvortrag
Eine die Versagung des rechtlichen Gehörs rügende Rechtsbeschwerde ist immer nur dann zulässig, wenn sie die an die Verfassungsbeschwerde selbst zu stellenden Anforderungen erfüllt, d.h., der Beschwerdeführer muss den Verhandlungsverlauf detailliert darlegen (OLG Jena NZV 2006, 609) und angeben, was er im Falle seiner Anhörung dem Gericht vorgetragen hätte (OLG Rostock zfs 2005, 312; OLG Hamm NZV 2008, 212; OLG Düsseldorf NZV 2011, 412). Allerdings ist die Grenze dort, wo mangels Kenntnis des maßgeblichen Inhalts (z.B. der Urkunde) ein Vortrag nicht möglich ist (BVerfG NJW 2019, 1433).
Das gilt entsprechend im Falle der Einspruchsverwerfung gem. § 74 Abs. 2 OWiG (OLG Karlsruhe DAR 2005, 694; OLG Zweibrücken NZV 2011, 97; OLG Hamm DAR 2011, 539; OLG Düsseldorf NZV 2011, 412; OLG Koblenz zfs 2014, 530). Nach zutreffender Auffassung des OLG Dresden (NZV 2013, 643) ist entsprechender Sachvortrag jedoch dann nicht notwendig, wenn das Gericht den Entbindungsantrag nicht beschieden und sich auch im Urteil nicht damit befasst hat.
Rz. 32
Noch höhere Anforderungen stellt die Rechtsprechung in den Fällen, in denen der Betroffene beanstandet, sein Entbindungsantrag sei zu Unrecht abgelehnt worden, und damit die Gesetzeswidrigkeit der nach § 74 Abs. 2 OWiG erfolgten Einspruchsverwerf...