Prof. Dr. Günther Schneider
Rz. 173
Schadensersatzansprüche des Verletzten bzw. seiner Hinterbliebenen sind vom Haftungsausschluss nicht betroffen, wenn der Arbeitsunfall vorsätzlich oder bei einem Wegeunfall eingetreten ist ("Sperrwirkung", vgl. dazu oben Rdn 1). Nach dem Gesetzeswortlaut des § 104 Abs. 1 S. 1 SGB VII kommt es insoweit darauf an, ob der Versicherungsfall "auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 (SGB VII) versicherten Weg" eingetreten ist. Dagegen ging § 636 RVO a.F. noch von dem Tatbestandsmerkmal der sog. Teilnahme am allgemeinen Verkehr aus.
Rz. 174
Die Bedeutung beider Alternativen (Vorsatz, Wegeunfall) zeigt sich darin, dass die Haftungsbefreiung bei Vorliegen einer der Alternativen entfällt. Mit anderen Worten stellen sie aus der Sicht der gesetzlichen Konzeption die Ausnahme von der Ausnahme (Haftungsprivileg) dar.
Rz. 175
Ist der Arbeitsunfall vorsätzlich herbeigeführt worden oder hat der Verletzte den Unfall bei einem Wegeunfall erlitten, so sind der Unternehmer (§ 104 SGB VII) bzw. der Arbeitskollege (§ 105 SGB VII) nach den allgemeinen Vorschriften (z.B. §§ 823 ff. BGB, insbesondere §§ 844, 845, 847 BGB) zum Schadensersatz verpflichtet. Die Schadensersatzansprüche des Versicherten, seiner Angehörigen und Hinterbliebenen vermindern sich jedoch um die Sozialleistungen, die sie in Folge des Arbeitsunfalls erhalten (§ 104 Abs. 3 SGB VII). Die Vorschrift verhindert eine Bereicherung des Verletzten bei der Abwicklung des Schadensfalls.
I. Vorsatz
Rz. 176
Bei vorsätzlichem Handeln ist dem Unternehmer die Berufung auf die Haftungsbefreiung versagt. Dies beruht letztlich auf der Konzeption der gesetzlichen Unfallversicherung selbst, die auf dem Prinzip beruht, die Haftpflicht des Verantwortlichen dadurch abzulösen, dass in der Regel für den Schaden die gesetzliche Unfallversicherung eintreten soll. Anders ist dies allerdings bei der vorsätzlichen Herbeiführung des Versicherungsfalls. Hier wird an das besonders zu missbilligende Verhalten angeknüpft sowie daran, dass sich dieses Verhalten gerade auf den Schadenserfolg, nämlich auf den die in der gesetzlichen Unfallversicherung zusammengeschlossene Versichertengemeinschaft wegen der daraus folgenden Aufwendungen belastenden Unfall bezieht. Dann wäre es aber systemwidrig, auch in diesen Fällen zur Haftungsbefreiung zu gelangen.
Rz. 177
Maßgebend ist der zivilrechtliche Vorsatzbegriff des § 276 BGB, wonach der Unfall mit Wissen und Wollen verursacht worden ist, wobei der Vorsatz nicht nur die bloße Schädigungshandlung, sondern gerade auch Eintritt und Umfang des Schadens umfassen muss. Die bloße vorsätzliche Missachtung von Unfallverhütungsvorschriften, auf die der Arbeitsunfall zurückzuführen ist, führt nicht zur Entsperrung des Haftungsausschlusses. Bedingter Vorsatz genügt. Bedingt vorsätzlich handelt, wer die als möglich erkannte Körperverletzung billigend in Kauf nimmt, also mit ihr für den Fall des Eintritts einverstanden ist. Auch insoweit knüpfen die §§ 104, 105 SGB VII an die frühere Rechtslage nach den §§ 636, 637 RVO an. Richtig ist, dass der Gesetzgeber bei der Einordnung der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch für den Anspruch des Geschädigten eine Änderung der bis dahin bestehenden Rechtslage weder in den neuen gesetzlichen Vorschriften zum Ausdruck gebracht noch beabsichtigt hat; lediglich für die Haftung gegenüber den Sozialversicherungsträgern ist eine vom bisherigen Rechtszustand abweichende Regelung getroffen worden.
Rz. 178
Vorsätzliche Verstöße gegen Unfallverhütungsvorschriften, das Verbot der Kinderbeschäftigung oder vorsätzliche Übertretung von Dienstanweisungen reichen für sich allein nicht aus, um die "vorsätzliche Herbeiführung des Arbeitsunfalls" im Sinne des § 104 SGB VII zu begründen, und zwar auch dann nicht, wenn der Unfall darauf zurückzuführen ist.
II. Wegeunfall
Rz. 179
Nach dem Zweck des ...