Prof. Dr. Günther Schneider
Rz. 204
Die Haftungsprivilegierung (Sperrwirkung) des schädigenden und in demselben Betrieb tätigen Betriebsangehörigen (§ 105 SGB VII) stellt im Vergleich zu der des Unternehmers (§ 104 SGB VII) eine Erweiterung dar, die erst nach Vorliegen zusätzlicher Tatbestandsmerkmale anzunehmen ist. Der versicherte Verletzte und der Schädiger müssen "demselben Betrieb" angehören; zum anderen muss der Schädiger "Betriebsangehöriger" sein und den Schaden "durch eine betriebliche Tätigkeit" verursacht haben.
Rz. 205
Die Vorschrift ist notwendige Ergänzung zu § 104 SGB VII. Ein Arbeitnehmer, der einem Dritten durch eine betriebliche Tätigkeit einen Schaden zufügt, ist diesem zwar zum Ersatz verpflichtet. Indessen kann er von seinem Arbeitgeber im Wege des innerbetrieblichen Schadensausgleichs Freistellung wegen dieser Ansprüche verlangen. Deshalb hätte der Arbeitgeber als Beitragszahler letztlich sowohl für die Kosten des Unfallversicherungsschutzes des Geschädigten als auch für den Schadensersatzanspruch einzustehen. Ohne die Vorschrift wäre der Gedanke der Haftungsersetzung (Rdn 17 ff.) unterlaufen.
I. In demselben Betrieb
Rz. 206
Zwischen den Begriffen "Betrieb" und "Unternehmen" besteht ein Unterschied.
Der Begriff des Betriebs ist enger als der des Unternehmens. Es kommt mithin nicht auf die Identität des Unternehmens, sondern vielmehr auf die des Betriebes an.
Rz. 207
Nach der früher nahezu einhelligen Auffassung war bei der rechtlichen Beurteilung des Merkmals "Betrieb" auf den arbeitsrechtlichen Betriebsbegriff abzustellen. Danach ist als Betrieb die organisatorische Einheit anzusehen, innerhalb derer der Unternehmer allein oder zusammen mit seinen Mitarbeitern bestimmte arbeitstechnische Zwecke mithilfe sächlicher oder immaterieller Mittel fortgesetzt verfolgt.
Rz. 208
Demgegenüber hat das Bundesarbeitsgericht in Bezug auf die rechtliche Differenzierung zwischen Betrieb und Unternehmen eine völlig entgegengesetzte Auffassung vertreten: Die Begriffe "Betrieb" und "Unternehmen" (i.S.d. §§ 636, 637 RVO a.F.) seien unfallversicherungsrechtlich deckungsgleich. Danach soll unter einem "Betrieb" nicht nur ein räumlich-organisatorisch gesonderter Unternehmensteil, sondern vielmehr das gesamte Unternehmen im Sinne der Gesetzlichen Unfallversicherung zu verstehen sein.
Rz. 209
Wegen der in § 105 Abs. 1 SGB VII getroffenen Neuregelung, die bereits nach ihrem Wortlaut unzweideutig auf das Wort "Betrieb" abstellt, ist dieser Auffassung eine klare Absage zu erteilen. Dies ergibt sich auch bei Heranziehung des Gesetzgebungsverfahrens: Im Referentenentwurf war zunächst beabsichtigt, auf das Unternehmen abzustellen. Die wurde im Gesetzgebungsverfahren aufgegeben und in § 105 SGB VII wieder auf den Begriff des Betriebs abgestellt. Der Haftungsausschluss kommt mithin nur zum Tragen, wenn Schädiger und Geschädigter im Unfallzeitpunkt in demselben Betrieb tätig sind.
Rz. 210
Damit ist die zu § 637 RVO insoweit ergangene Rechtsprechung auch weiterhin von Bedeutung: Der für die gesetzliche Regelung bedeutsame Gesichtspunkt des Arbeitsfriedens zwingt dazu, den Begriff des Betriebs auf eine räumliche Einheit einzuschränken. Die Mitarbeiter müssen in räumlicher oder persönlicher Verbindung zusammenarbeiten.
Rz. 211
Der Anspruch eines städtischen Bediensteten gegen den Beschäftigten eines anderen städtischen Betriebs unterliegt daher nicht der Haftungsbeschränkung. Ebenso wenig ist sie zwischen Beschäftigten örtlich getrennter Betriebsteile des gleichen Unternehmens anzunehmen. Etwas anderes kann für Hilfs- und Nebenbetriebe gelten, deren Arbeitnehmer in räumlicher Verbindung auf einer Arbeitsstelle gemeinsam tätig sind; hier ist die persönliche und räumliche Verbindung vorhanden.
Rz. 212
Abgrenzungsprobleme können sich ergeben, wenn z.B. Arbeitnehmer eines Konzernunternehmens vorübergehend in ein anderes Konzernunternehmen abgeordnet werden und es dort zu einem Arbeitsunfall kommt. Fahrer eines Krankenwagens und mitfahrende Rot-Kreuz-Helferin sind in demselben Betrieb tätig. Dagegen sind Angehörige der DLRG und der Feuerwehr nicht im gleichen Betrieb tätig, auch nicht bei einer gemeinsamen Einsatzübung.
Rz. 213
Die Haftungsbeschränkung des § 105 Abs. 1 SGB VII greift folglich nicht ein, wenn der Schädiger zwar in demselben Unternehmen (Konzern) wie der Geschädigte, nicht aber auch in derselben organisatorischen Einheit (Betrieb) tätig ist.