Rz. 392
In Rechtsprechung und Literatur ist das Institut der sog. Verdachtskündigung anerkannt. Eine Verdachtskündigung kommt nur in Betracht, wenn dringende, auf objektiven Tatsachen beruhende schwerwiegende Verdachtsmomente vorliegen und diese geeignet sind, das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen bei einem verständigen und gerecht abwägenden Arbeitgeber zu zerstören. Der dringende Verdacht einer schwerwiegenden Pflichtverletzungkann einen wichtigen Grund zur Kündigung i.S.v. § 626 Abs. 1 BGB darstellen. Der Arbeitgeber muss alle zumutbaren Anstrengungen zur Auflösung des Sachverhalts unternommen, insbesondere dem Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben haben. Dabei sind an die Darlegung und Qualität der schwerwiegenden Verdachtsmomente besonders strenge Anforderungen zu stellen, weil bei einer Verdachtskündigung immer die Gefahr besteht, dass ein "Unschuldiger" betroffen ist. Der notwendige, schwerwiegende Verdacht muss sich aus den Umständen ergeben bzw. objektiv durch Tatsachen begründet sein. Er muss dringend sein, dh., bei einer kritischen Prüfung muss eine auf Beweisanzeichen (Indizien) gestützte große Wahrscheinlichkeit für die erhebliche Pflichtverletzung (Tat) gerade dieses Arbeitnehmers bestehen. Bloße auf mehr oder weniger haltbare Vermutungen gestützte Verdächtigungen reichen zur Rechtfertigung eines dringenden Tatverdachts nicht aus. Schließlich muss der Arbeitgeber alles ihm Zumutbare zur Aufklärung des Sachverhalts getan haben. Insbesondere muss er zunächst selbst eine Aufklärung des Sachverhalts unternommen haben. Möglichen Fehlerquellen muss er nachgehen. Der Umfang der Nachforschungspflichten richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles.
Rz. 393
Für die kündigungsrechtliche Beurteilung der Pflichtverletzung, auf die sich der Verdacht bezieht, ist ihre strafrechtliche Bewertung nicht maßgebend. Entscheidend ist der Verstoß gegen vertragliche Haupt- oder Nebenpflichten und der mit ihm verbundene Vertrauensbruch. Auch der dringende Verdacht einer nicht strafbaren, gleichwohl erheblichen Verletzung der sich aus dem Arbeitsverhältnis ergebenden Pflichten kann ein wichtiger Grund i.S.v. § 626 Abs. 1 BGB sein. Im Strafverfahren gewonnene Erkenntnisse oder Handlungen der Strafverfolgungsbehörden können die Annahme verstärken, der Arbeitnehmer habe die Pflichtverletzung begangen. Allerdings kann eine Verdachtskündigung nicht allein auf eine den dringenden Tatverdacht bejahende Entscheidung der Strafverfolgungsbehörden als solche gestützt werden. Handlungen oder Entscheidungen der Strafverfolgungsbehörden können allenfalls indizielle Bedeutung für die vom Gericht vorzunehmende Bewertung erlangen, ob die Kündigung des Arbeitsverhältnisses aus wichtigem Grund wegen des entsprechenden Verdachts gerechtfertigt ist. Die behördlichen Maßnahmen bilden dagegen für sich genommen keinen Kündigungsgrund und sind nicht geeignet, eine eigene Bewertung der den Verdacht begründenden Tatsachen durch die mit der Sache befassten Gerichte zu ersetzen.
Rz. 394
Bei der Prüfung der Wirksamkeit einer Verdachtskündigung ist zu berücksichtigen, dass der ursprüngliche Verdacht durch später bekannt gewordene Umstände, jedenfalls soweit sie bei Kündigungszugang objektiv bereits vorlagen, abgeschwächt oder verstärkt werden kann. Im Kündigungszeitpunkt objektiv vorliegende entlastende Tatsachen sind auch dann zugunsten des Arbeitnehmers zu berücksichtigen, wenn der Arbeitgeber sie unverschuldet nicht hat kennen können.
Rz. 395
Nach ständiger Rechtsprechung des BAG stellt zwar der Verdacht einer strafbaren Handlung oder eines vertragswidrigen Verhaltens gegenüber dem Tatvorwurf einen eigenständigen Kündigungsgrund dar. Gleichwohl stehen die beiden Kündigungsgründe des Verdachts und des Vorwurfs einer Pflichtwidrigkeit nicht beziehungslos nebeneinander. Wird die Kündigung zunächst nur mit dem Verdacht eines pflichtwidrigen Verhaltens begründet, steht jedoch nach der Überzeugung des Gerichts (beispielsweise aufgrund einer Beweisaufnahme) die Pflichtwidrigkeit fest, so lässt dies die Wirksamkeit der Kündigung aus materiell-rechtlichen Gründen unberührt. Das Gericht ist nicht gehindert, die nachgewiesene Pflichtwidrigkeit als Kündigungsgrund anzuerkennen. Dies gilt selbst dann, wenn der Arbeitgeber eine Verdachtskündigung ausgesprochen und im Prozess keine Tatkündigung nachgeschoben hat. Hat das Gericht materiell-rechtlich die Möglichkeit, sein Urteil im Fall einer ausschließlich mit dem Verdacht einer Pflichtwidrigkeit begründeten Kündigung dennoch darauf zu stützen, es sei von der Tatbegehung überzeugt, folgt daraus aber zugleich die Verpflichtung des Tatsachenrichters, eine als Verdachtskündigung für unwirksam erachtete Kündigung weiter daraufhin zu überprüfen, ob die vom Arbeitgeber vorgetragenen Verdachtsmomente ggf. geeignet sind, die Überzeugung von einer entsprechenden Tat zu gewinnen und die Kündigung unter dem Gesichtspunkt eine...