Rz. 154

Liegt überhaupt ein Unfall im Sinne der Bedingungen vor, so ist weiterhin zu prognostizieren, ob das Unfallereignis den Bandscheibenvorfall überwiegend verursacht hat.

"Überwiegend" bedeutet, dass die Bandscheibenschädigung zu über 50 % auf das Unfallereignis zurückgeführt werden kann. Ist dies der Fall, greift der Ausschluss nicht ein. Hierbei ist – anders als bei der Mitwirkung nach Ziff. 3 AUB 08/99, § 8 AUB 94/88 – der bestehende unfallfremde Verursachungsanteil voll zu berücksichtigen, also auch eine altersentsprechende Degeneration.

Ausgangspunkt der Bewertung ist die Prüfung, ob eine erhebliche Kraftentfaltung auf die betroffene Stelle der Wirbelsäule stattgefunden hat. Fehlt eine solche Gewalteinwirkung mit äußeren Verletzungen oder Frakturen, so liegt erfahrungsgemäß keine überwiegende Ursache für die Bandscheibenschädigung vor. Dies gilt insbesondere für die Fälle, in denen degenerative Veränderungen am fraglichen Wirbelsäulensegment nachgewiesen sind.[218] Kann der Bandscheibenschaden bereits aufgrund der degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule ohne erhebliche traumatische Einwirkung entstanden sein, dann fehlt es an einer überwiegenden Ursache.[219]

 

Rz. 155

Über die Frage der überwiegenden Verursachung hinaus, sind überdies die Mitwirkungsregeln nach Ziff. 3 AUB 08/99, § 8 AUB 94/88 zu beachten, so dass der Anspruch gemindert werden kann.

 

Beispiel für fehlenden Versicherungsschutz

BGH:[220] Beim Anheben einer Mörtelwanne zog sich der VN einen Bandscheibenvorfall zu. Hier fehlt es bereits an einem Unfall.
LG Karlsruhe:[221] Die VP stolpert, fällt auf ihr Gesäß und zieht sich einen Bandscheibenvorfall zu. Ein Unfall liegt vor, ist aber nicht überwiegende Ursache des Bandscheibenvorfalls.
 

Rz. 156

In der Praxis der Fallbearbeitung stellt sich auf Seiten der VP auch ein anderes Problem:

Die degenerativen Veränderungen der Bandscheibe verlaufen meist klinisch stumm, d.h. sie werden subjektiv nicht wahrgenommen und treten erst anlässlich des angezeigten Ereignisses in Erscheinung, welches aber die Schädigung selbst nicht bzw. nur zu einem geringen Mitwirkungsanteil verursacht hat. Auch wenn die VP angibt, vor dem Unfall keine Bandscheibenbeschwerden gehabt zu haben, belegt dies vor Gericht nicht die überwiegende Ursache des Unfalles für den Bandscheibenschaden.[222]

Klinisch stumme Bandscheibenschädigungen manifestieren sich zudem häufig anlässlich einer beliebigen Gelegenheitsursache (einer bestimmten Bewegung, "Vertreten", Anheben eines Gegenstandes), die dann aufgrund der erheblichen Folgen von der VP als Unfall interpretiert wird. Hier ist gegenüber der VP bei den Erläuterungen zur Sach- und Rechtslage besondere Sensibilität gefragt.

 

Rz. 157

 

Hinweis

Bei der Prognose des Mitwirkungsanteils ist zu beachten:

Traumatisch bedingte bzw. überwiegend traumatisch bedingte Bandscheibenvorfälle sind in der Praxis sehr selten. Sie setzen nach medizinischer Erfahrung ein eindrucksvolles und dramatisches Geschehen voraus, welches regelmäßig erhebliche Begleitverletzungen zur Folge hat,[223] wie etwa Wirbelbrüche, Knochenmarksödeme etc. Fehlen solche Begleitverletzungen, spricht man von einem isolierten Bandscheibenvorfall, bei dem regelmäßig der Ausschluss eingreift.

[219] OLG Hamm v. 1.2.2006 – 20 U 135/05, zfs 2006, 581 = r+s 2006, 467.
[220] BGH v. 23.11.1988 – IVa ZR 38/88, r+s 1989, 166.
[221] LG Karlsruhe v. 28.3.1996 – 8 O 421/95, r+s 1997, 264.
[222] OLG Hamm v. 1.2.2006 – 20 U 135/05, r+s 2006, 467.
[223] Vgl. etwa OLG Frankfurt v. 18.2.2003 – 25 U 225/00, r+s 2004, 431; OLG Koblenz 27.10.2000 – 10 U 729/99, r+s, 2002, 130.

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