Dr. iur. Kerstin Diercks-Harms, Dr. iur. Rüdiger Brodhun
Rz. 76
Eigene, frühzeitige Beweiserhebungen des Rechtsanwalts sind ohne Weiteres zulässig. Für eine Inaugenscheinnahme, die Vorlegung von Urkunden und das Einholen eines (privaten) Sachverständigengutachtens, z.B. nach einem Verkehrsunfall, ist dies selbstverständlich.
Rz. 77
Auch eine Befragung von Zeugen durch den Rechtsanwalt – im Vorfeld eines Prozesses – kommt in Betracht (und wird z.B. von Versicherungen in Verkehrsunfallsachen mittels erbetener schriftlicher Unfalldarstellungen durchaus so gehandhabt). Die Befragung von Zeugen zu diesem frühen Zeitpunkt kann sich sogar als anwaltliche Pflicht darstellen, denn sie dient der Vermeidung von Überraschungen. Zudem kann dem Zeugen geholfen werden, sein Gedächtnis zu erforschen, eventuell Unterlagen zusammenzustellen und sich über den Sachverhalt klar zu werden. Der Rechtsanwalt sollte jedoch beim Mandanten keine falschen Erwartungen wecken, sondern klarstellen, dass jedes Gespräch mit einem Zeugen nur dazu dienen kann, den Sachverhalt zu klären und für eine wahrheitsgemäße Aussage zu sorgen. Jegliche Beeinflussung ist zu vermeiden. Ob eine Zeugenbefragung stets sinnvoll ist, ist ein davon zu unterscheidender Punkt. Dabei dürfte auch maßgeblich sein, ob ein Zeuge bereit sein wird, außerhalb eines Verfahrens Informationen zur Verfügung zu stellen. Ein maßgebender Anreiz hierfür könnte sein, dass er davon ausgehen darf, von einer späteren gerichtlichen Vernehmung verschont zu bleiben. Etwaigen Unsicherheiten eines Zeugen, was mit seiner Aussage gegenüber dem Rechtsanwalt geschehen werde, kann dadurch begegnet werden, dass ihm zugesagt wird, die Aussage schriftlich festzuhalten und ihm abschriftlich zu überlassen.
Rz. 78
In jedem Fall sollte bei einer Befragung jeglicher Eindruck einer Zeugenbeeinflussung vermieden werden. Unzutreffend ist aber die Mutmaßung, dass ein Gericht eine anwaltliche Befragung negativ bewerten kann. Es ist jedoch zu empfehlen, eine vorherige Befragung gegenüber dem Gericht offen zu legen.
Rz. 79
Bei eigenen Ermittlungen des Rechtsanwalts sollte bereits die Glaubwürdigkeit des Zeugen hinterfragt werden, mithin dass es sich nicht um einen Zeugen handelt, welcher den Eindruck vermittelt, allein dem Mandanten helfen zu wollen. Dabei dürfte vor allem von Bedeutung sein, ob der Zeuge überhaupt etwas zum behaupteten Tatsachengeschehen bekunden kann und ob der vom Zeugen geschilderte Sachverhalt mit anderen äußeren Umständen vereinbar ist. Sollte sich herausstellen, dass es sich lediglich um einen sog. Zeugen vom Hörensagen handelt, wäre dies bei einer Benennung gegenüber dem Gericht rechtzeitig mitzuteilen, um keine negative prozessuale Störung zu erzeugen. Bisweilen wird ein Zeuge genau das Gegenteil vom dem bestätigen, was der Mandant mitgeteilt hat. Dann ist es in jedem Fall richtig gewesen, dies schon vorgerichtlich zu klären und diesen Zeugen nicht zu benennen oder bei fehlender Beweismöglichkeit des Mandanten die entsprechenden prozessualen Konsequenzen zu ziehen. Sollte es sich ein Zeuge wiederum später "anders überlegen", könnten diesem Zeugen bei einer späteren Beweisaufnahme entsprechende Vorhalte aus seiner schriftlichen Aussage gemacht werden.
Rz. 80
Für die Erforschung des Sachverhalts, die Ermittlung von Zeugen, das Beschaffen von Unterlagen und Urkunden kann es während eines laufenden Prozesses zu spät sein, weil Gerichte meist kurze Fristen zur Beibringung fehlender Tatsachen oder Beweisantritte setzen.