A. Europarechtliche Regelungen
Rz. 1
In der verkehrsrechtlichen Praxis spielt die Frage eine bedeutsame Rolle, ob und unter welchen Voraussetzungen die in einem EU-/EWR-Land (sog. "Ausstellerstaat") erworbene Fahrerlaubnis in einem anderen Mitgliedsstaat ("Aufnahmestaat") anzuerkennen ist. Weiter kann es problematisch sein, ob der Aufnahmestaat die Befugnis hat, die in einem anderen EU-/EWR-Land erteilte Fahrerlaubnis mit Wirkung für sein Hoheitsgebiet zu entziehen oder zu beschränken.
Rz. 2
Maßgebende europarechtliche Regelung ist die Dritte EU-Führerschein-Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.12.2006 – 2006/126/EG (ABl Nr. L 403 vom 30.12.2006, S. 18). Diese Richtlinie ist am 19.1.2007 in Kraft getreten, war bis zum 19.1.2011 in nationales Recht umzusetzen (Art. 16 Abs. 1) und ist seit dem 19.1.2013 anzuwenden (Art. 16 Abs. 2). Sie hat die vorangegangene Zweite EU-Führerschein-Richtlinie vom 29.7.1991 – 91/439/EWG (ABl Nr. L 237 vom 24.8.1991, S. 1) abgelöst, welche mit Wirkung vom 19.1.2013 außer Kraft getreten ist (Art. 17 Abs. 1 der Dritten Richtlinie).
B. Sonderbestimmungen für Inhaber ausländischer Fahrerlaubnisse
Rz. 3
In der FeV sind für die Inhaber ausländischer Fahrerlaubnisse eine Reihe von Sonderbestimmungen getroffen. Sie finden sich in den §§ 28 bis 31 FeV. Die Vorschriften enthalten Regelungen zu folgenden Punkten:
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Anerkennung von Fahrerlaubnissen aus Mitgliedsstaaten der Europäischen Union oder einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (§ 28); |
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Ausländische Fahrerlaubnisse (§ 29); |
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Erteilung einer Fahrerlaubnis an Inhaber einer Fahrerlaubnis aus einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union oder einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (§ 30); |
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Rücktausch von Führerscheinen (§ 30a); |
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Erteilung einer Fahrerlaubnis an Inhaber einer Fahrerlaubnis aus einem Staat außerhalb des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (§ 31). |
Rz. 4
Die Thematik der Erteilung und Anerkennung einer in einem EU-/EWR-Land erworbenen Fahrerlaubnis war und ist Gegenstand zahlreicher Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes sowie nationaler Gerichte. Dies trifft in gleicher Weise auf die Möglichkeit der Entziehung einer in einem EU-/EWR-Land erteilten Fahrerlaubnis zu.
C. Die Europäische Fahrerlaubnis
Rz. 5
Der Rechtsstatus der Fahrerlaubnisse, die von einem EU-/EWR-Land erteilt worden sind, wird im nationalen Recht durch § 28 FeV geregelt. Diese Norm ist stark durch die Rechtsprechung des EuGH geprägt und in der Vergangenheit immer wieder an diese angepasst worden. Der EuGH hat fortlaufend das Fahrerlaubnisrecht durch Grundsatzentscheidungen zur Auslegung der verschiedenen EU-Führerscheinrichtlinien gestaltet. Das deutsche Recht bzw. die Rechtsanwendung von Behörden und Gerichten wurde vom Gerichtshof nicht nur einmal als unvereinbar mit der Führerscheinrichtlinie bezeichnet. Letztlich kann kritisch angemerkt werden, dass die deutschen Behörden und Gerichte nicht selten versucht haben, sich der Bindung der EU-Führerscheinrichtlinie durch bisweilen abenteuerliche Argumentation zu entziehen. Fälle der unterlassenen Vorlage entscheidungsrelevanter Rechtsfragen an den EuGH unter Missachtung des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) beschäftigten auch das BVerfG.
Rz. 6
Seit der Entscheidung des EuGH vom 29.2.1996 in der Sache Skanavi und Chrysanthakopoulos, welche auf einen Vorlagebeschluss des AG Berlin-Tiergarten erging, gilt im europäischen Recht das Prinzip der wechselseitigen und bedingungslosen Anerkennung aller von den EU-/EWR-Ländern ausgestellten Fahrerlaubnisse, wie es mittlerweile auch in § 28 Abs. 1 FeV verankert ist. Es besagt – in kurzen Worten – dass die von einem EU-Mitgliedstaat erteilten Fahrerlaubnisse in allen Mitgliedstaaten ohne jede Formalität anzuerkennen sind. Dies wird vom EuGH als wichtiger Baustein der Grundfreiheiten, insbesondere der Dienstleistungs- (Art. 56 AEUV) und Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV), angesehen.
Rz. 7
Der vom EuGH postulierte Anerkennungsgrundsatz führte bald zum sog. "Führerscheintourismus". Wegweisend war die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Kapper vom 29.4.2004. Dort ging es um folgenden Sachverhalt: Dem Angeklagten war in Deutschland seine Fahrerlaubnis nach § 69 StGB entzogen worden. Nach Ablauf der entsprechenden Sperrfrist (§ 69a StGB) hatte er eine niederländische Fahrerlaubnis erworben. Nach den Informationen der deutschen Behörden hatte der Angeklagte jedoch seinen Wohnsitz nie in die Niederlande verlegt. Der EuGH entschied auf Vorlage des AG Frankenthal, bei welchem gegen den Angeklagten ein Strafverfahren wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis (§ 21 StVG) anhängig war, dass die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur wechselseitigen Anerkennung von Fahrerlaubnissen auch dann besteht, wenn deren Inhaber – wie der Angeklagte – zum Erwerbszeitpunkt seinen Wohnsitz nach den Informationen des Aufnahmestaates gar nicht in dem betreffenden Staat hatte. Der EuGH sprach Deutschland ...