Rz. 43
Der Anwalt hat die Angelegenheit nicht nur selbstständig zu durchdenken, sondern auch dem Gericht ggü. die zugunsten seiner Partei sprechenden rechtlichen Gesichtspunkte deutlich zu machen. Infolge dieser Verpflichtung zur eigenverantwortlichen Rechtsprüfung hat er einen ihm unterlaufenen Rechtsirrtum i.d.R. zu vertreten. Er wird auch nicht ohne Weiteres dadurch entschuldigt, dass andere Rechtskundige denselben Fehler begangen haben. Selbst wenn ein Kollegialgericht das Verhalten als objektiv berechtigt angesehen hat, kann im Einzelfall eine schuldhafte Pflichtverletzung zu bejahen sein. Dieser Grundsatz gilt für die Steuerberaterhaftung in gleicher Weise.
Rz. 44
Nicht jede Rechtsansicht, die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung verworfen wird, ist indessen als schuldhafter Irrtum zu bewerten. Schließt der Rechtsanwalt in einer Frage, die bis dahin nicht höchstrichterlich entschieden worden ist, sich einem instanzgerichtlichen Urteil oder einer in der Literatur vertretenen Auffassung mit vertretbaren Erwägungen an, ist im Allgemeinen zumindest ein Verschulden selbst dann zu verneinen, wenn sich diese Auffassung später in der Praxis nicht durchsetzt. Dies gilt erst recht bei uneinheitlicher höchstrichterlicher Rechtsprechung. Wird in den gängigen Kommentaren eine fehlerhafte Rechtsansicht vertreten und enthalten diese auch keinen Hinweis auf eine entgegenstehende Rechtsprechung, ist dem Anwalt, der sich darauf verlassen hat, kein Vorwurf zu machen. Der BGH hat daher das Verschulden eines Notars verneint, der im Rahmen eines Bauträgermodells einen wegen Verstoßes gegen das Rechtsberatungsgesetz nichtigen Geschäftsbesorgungsvertrag beurkundet hat, weil es sich um einen in der Praxis häufig verwendeten Vertragstyp handelte, dessen Wirksamkeit bis dahin weder in der Literatur noch in der veröffentlichten Rechtsprechung problematisiert worden war. Ein vergleichbarer Rechtsirrtum des Anwalts oder Steuerberaters wäre ebenfalls nach den aus diesem Urteil ersichtlichen Grundsätzen zu beurteilen.
Rz. 45
Eine schwierige Lage kann für den Rechtsanwalt entstehen, wenn das Gericht bestimmte rechtliche Hinweise erteilt, oftmals mit dem Ziel, ihn zu bestimmten Erklärungen, etwa zu einem Vergleichsschluss oder einer Rechtsmittelrücknahme, zu bewegen. Auch hier gilt, dass der Anwalt nicht jede vom Gericht verlautbarte Meinung unbesehen übernehmen darf, sondern möglichst versuchen muss, sich eine eigenständige Meinung zu bilden. Er muss die gegen die vorläufige Meinung des Gerichts sprechenden tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte beachten und den Mandanten über die Prozessaussichten uneingeschränkt aufklären. Jedoch können gerade in solchem Zusammenhang Umstände auftreten, welche auch einen sorgfältig arbeitenden Rechtsanwalt veranlassen, dem Mandanten zu empfehlen, davon abzusehen, die gegen die Ansicht des Gerichts sprechenden Punkte im Einzelnen vorzutragen, weil damit eine Verlängerung der Prozessdauer und eine deutliche Verschlechterung der Aussichten, den Rechtsstreit durch Vergleich zu erledigen, verbunden wären (vgl. Rdn 48).
Rz. 46
Art und Inhalt einer gerichtlichen Mitteilung können den Anschein einer amtlichen Autorität begründen, auf die sich der Rechtsanwalt verlassen darf, mit der Folge, dass seine dadurch veranlassten objektiv fehlerhaften Entschließungen entschuldigt sind. Dies trifft etwa auf die Nachricht, eine Rechtsmittelschrift sei an einem bestimmten Tag eingegangen, und auch auf die telefonische Mitteilung des Vorsitzenden zu, eine Fristverlängerung sei gewährt worden. Auf die Richtigkeit der vom Gericht erteilten Rechtsmittelbelehrung darf sich der Anwalt ebenfalls verlassen, wenn sie nicht offenkundig fehlerhaft und der durch sie verursachte Fehler nachvollziehbar ist. Dagegen vermag eine offenkundig falsche Belehrung den Anschein der Richtigkeit nicht zu erwecken und den Anwalt, der auf den Hinweis vertraut hat, nicht zu entlasten. Wird eine Zustellung auf richterliche Anordnung wiederholt, kann der Prozessbevollmächtigte des Zustellungsempfängers davon ausgehen, dass erst die zweite Zustellung die Rechtsmittelfrist in Lauf gesetzt hat. Rät der Vorsitzende des zuständigen Gerichts zur Rücknahme des Rechtsmittels, weil er es irrig für unzulässig hält, kann bei undurchsichtiger Rechtslage der Anwalt, der diesem Hinweis folgt, entschuldigt sein. Dasselbe gilt, wenn er sich durch einen entsprechenden Hinweis des unzuständigen Gerichts hat davon abhalten lassen, das Rechtsmittel noch rechtzeitig beim zuständigen Gericht einzulegen. Ein Verschulden ist auch verneint worden, als unterschiedliche Meinungen verschiedener Senate des BGH über den Beginn der Frist zur Begründung der Berufung nach bewilligter Prozesskostenhilfe bestanden und der Anwalt der Ansicht gefolgt war, die zu einem späteren Fristbeginn führte.
Rz. 47
Der Anwalt ist nicht gehalten, den Eingang seiner Schriftsätze bei Gericht zu überwachen. Liegt jedoch ein ...