Rz. 26
Fährt ein Verkehrsteilnehmer auf ein vor ihm befindliches Fahrzeug auf, wird im Wege des Anscheinsbeweises regelmäßig ein schuldhafter Verstoß des Auffahrenden gegen § 4 Abs. 1 S. 1 StVO vermutet. Dies gilt auch bei dem grob fahrlässigen Auffahrvorgang eines Radfahrers auf einen Pkw. Voraussetzung hierfür ist aber zumindest ein achsparalleler Anstoß, um eine typische Auffahrsituation zu begründen. In diesem Fall haftet der Auffahrende regelmäßig alleine.
Rz. 27
Muster 4.7: Auffahrunfall und Anscheinsbeweis
Muster 4.7: Auffahrunfall und Anscheinsbeweis
Fährt jemand auf ein vor ihm befindliches Fahrzeug auf, spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass er entweder nicht den notwendigen Sicherheitsabstand eingehalten bzw. nicht die gebotene Sorgfalt bei der Beobachtung des vor ihm fahrenden Verkehrs beachtet hat, ggf. auch einfach zu schnell gefahren ist. Im Wege des Anscheinsbeweises wird ein schuldhafter Verstoß gegen § 4 Abs. 1 S. 1 StVO (BGH, Urt. v. 13.12.2016 – VI ZR 32/16 = NJW 2017, 117; BGH, Urt. v. 23.1.2007 – VI ZR 146/06 = MDR 2007, 717) im Falles des zu schnellen Fahrens auch gegen § 3 Abs. 1 StVO vermutet (OLG Düsseldorf, Urt. v. 29.9.2005 – 10 U 203/04 = NZV 2006, 200; LG Berlin, Urt. v. 3.2.2003 – 58 S 248/02 = SP 2003, 158). Hinter dem überragenden Fehlverhalten des Auffahrenden tritt die Betriebsgefahr des davor befindlichen Fahrzeug im vollen Umfang zurück (OLG Köln, Urt. v. 29.6.2004 – 9 U 176/03 = SP 2004, 329; LG Duisburg, Urt. v. 10.4.2015 – 10 O 192/14 – juris; LG Wuppertal, Urt. v. 27.11.2012 – 2 O 398/10 = SP 2013, 251; LG Duisburg, Urt. v. 15.1.20145 – 5 S 97/13 – juris).
Rz. 28
Schwieriger wird die Beurteilung dieses Sachverhalts, wenn der auffahrende Fahrzeugführer sich damit verteidigt, dass der vordere Kraftfahrzeugführer kurz zuvor einen unachtsamen Fahrstreifenwechsel vorgenommen und dadurch den Unfall verursacht hätte. Wenn der Anstoß deshalb in einer Schrägstellung erfolgt ist, also kein achsparalleler Anstoß vorliegt, spricht der Anscheinsbeweis gegen den Fahrstreifenwechsler und dieser haftet im Zweifel alleine.
Rz. 29
Muster 4.8: Auffahrunfall und Fahrstreifenwechsel mit Schrägstellung
Muster 4.8: Auffahrunfall und Fahrstreifenwechsel mit Schrägstellung
Liegt kein achsparalleler Anstoß vor, sondern deuten die dokumentierten Schäden darauf hin, dass das vorausfahrende Fahrzeug in Schrägstellung bei einem Fahrstreifenwechsel befindlich gewesen ist, greift zu Lasten des Hintermanns kein Anscheinsbeweis wegen eines unachtsamen Auffahrvorgangs. Vielmehr spricht der Anscheinsbeweis dafür, dass der den Fahrstreifen wechselnde Fahrzeugführer dabei eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer nicht ausgeschlossen und dadurch gegen § 7 Abs. 5 StVO verstoßen hat (OLG Schleswig, Urt. v. 22.12.2015 – 7 U 111/14 – juris; OLG Karlsruhe, Urt. v. 24.6.2008 – 1 U 5/08 = SP 2009, 66; OLG Hamm, Beschl. v. 27.10.2014 – I 9 U 60/14 – juris; LG Essen, Urt. v. 12.2.2014 – 5 O 125/13 – juris; LG Dortmund, Urt. v. 14.4.2015 – 21 O 319/13 – juris; zum Indiz der Schrägstellung vgl. KG Berlin, Urt. v. 22.1.2001 – 22 U 1044/00 = MDR 2001, 808). Hinter diesem groben Fehlverhalten tritt die einfache Betriebsgefahr des nachfolgenden Fahrzeugs zurück.
Rz. 30
Dieser Fall ist aber anders zu beurteilen, wenn sich der Vorausfahrende nach einem Fahrstreifenwechsel bereits vollständig auf der Fahrspur des Auffahrenden eingeordnet hat und der zeitliche Zusammenhang zwischen dem Fahrstreifenwechsel und dem Auffahrvorgang streitig ist. In diesem Fall sind zwei mögliche Ausgangssituationen zu unterscheiden: Ist ein achsparalleler Anstoß erfolgt und der behauptete Fahrstreifenwechsel des Vordermanns streitig spricht erst einmal gegen den Auffahrenden allein der Beweis des ersten Anscheins, den dieser zu erschüttern hat.
Rz. 31
Muster 4.9: Auffahrunfall und streitiger Fahrstreifenwechsel
Muster 4.9: Auffahrunfall und streitiger Fahrstreifenwechsel
In dem vorliegenden Fall greift ein Anscheinsbeweis des Auffahrenden wegen eines Verstoßes gegen § 4 Abs. 1 StVO. Dieser ist im Rahmen eines achsparallelen Anstoßes auf den Vordermann aufgefahren und es liegt damit erst einmal eine typische Auffahrsituation, bei welcher vermutet wird, dass der Auffahrende zu schnell oder unaufmerksam gefahren ist bzw. nicht den notwendigen Sicherheitsabstand eingehalten hat (BGH, Urt. v. 13.12.2016 – VI ZR 32/16 = NJW 2017, 117; BGH, Urt. v. 16.1.2007 – VI ZR 248/05 = MDR 2007, 717). Dies wäre nur dann anders, wenn ein Fahrstreifenwechsel des Vorausfahrenden nachgewiesen oder unstreitig ist – aber dies trifft auf den vorliegenden Fall gerade nicht zu. Insoweit unterscheidet sich dieser Fall auch von der Konstellation, bei welcher ein Fahrstreifenwechsel des Vordermanns an sich unstreitig ist, aber über dessen zeitliche Nähe zum Auffahrunfall gestritten wird.
Rz. 32
Hat dagegen unstreitig oder bewiesener Maßen vor der Kollision ein Fahrstreifenwechsel des Vordermanns stattgefunden und streiten die Parteien nur noch darüber, ob dies...