Rz. 103
Wer im unbeampelten Kreuzungsbereich dem Bevorrechtigten die Vorfahrt nimmt, haftet im Zweifel allein. Dieses überragende Fehlverhalten verdrängt jegliche "einfache" Betriebsgefahr des Unfallgegners. Der schuldhafte Verstoß des Wartepflichtigen gegen § 8 StVO wird im Wege des Anscheinsbeweises vermutet. Kann der Wartepflichtige nicht sehen, ob er bei der Einfahrt einen Vorfahrtsberechtigten gefährdet oder wesentlich behindert, darf er sich nur vorsichtig in die Kreuzung und nur zentimeterweise bis zu dem Punkt hineintasten, an dem er die erforderliche Übersicht erlangt.
Rz. 104
Auch eine erhöhte Geschwindigkeit des Vorfahrtsberechtigten ist grundsätzlich geeignet, den Anscheinsbeweis zu erschüttern, sofern der Vorfahrtsberechtigte im erheblichen Umfang zu schnell gefahren ist und sich dies ursächlich auf den Verkehrsunfall ausgewirkt hat. Die entsprechende Beweislast trägt der Wartepflichtige. Der Vorfahrtsberechtigte darf jedenfalls grundsätzlich mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit in den Kreuzungsbereich einfahren, solange er keine andere Veranlassung hat. Er verstößt aber gegen das Gebot des Fahrens auf Sicht, wenn er in einem unübersichtlichen Kreuzungsbereich seine Geschwindigkeit nicht der für ihn einsehbaren Strecke anpasst.
Die Wartepflicht und der daraus resultierende Anscheinsbeweis gelten aber nur in den Fällen, bei denen das bevorrechtigte Fahrzeug in dem Augenblick des Einfahrens für den Wartepflichtigen sichtbar gewesen ist. Die fehlende Sichtbarkeit hat der Wartepflichtige in vollem Umfang zu beweisen, um die Voraussetzungen für einen Anscheinsbeweis zu entkräften. Kann der Wartepflichtige nicht sehen, ob er bei der Einfahrt einen Vorfahrtsberechtigten gefährdet oder wesentlich behindert, darf er sich nur vorsichtig in die Kreuzung bis zu dem Punkt hineintasten, an dem er die erforderliche Übersicht erlangt.
Rz. 105
Muster 4.38: Erschütterung Anscheinsbeweis wegen Vorfahrtsverletzung
Muster 4.38: Erschütterung Anscheinsbeweis wegen Vorfahrtsverletzung
Ein eventuell bestehender Anscheinsbeweis wegen einer behaupteten Vorfahrtsverletzung ist vorliegend erschüttert. Die Wartepflicht und der daraus resultierende Anscheinsbeweis gelten nämlich nur in den Fällen, bei denen das bevorrechtigte Fahrzeug in dem Augenblick des Einfahrens für den Wartepflichtigen sichtbar gewesen ist (bereits grundlegend: BGH, Urt. v. 18.9.1984 – VI ZR 289/82 = VersR 1984, 1147; vgl. auch OLG Hamm, Urt. v. 2.2.2000 – 13 U 155/99 = DAR 2001, 362 und OLG Celle, Urt. v. 2.12.2004 – 14 U 63/04 = OLGR Celle 2005, 51). Wenn dies – wie hier vorliegend – nicht der Fall ist, kann dem Wartepflichtigen kein schuldhafter Verstoß gegen die Wartepflicht vorgeworfen werden Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der vorfahrtsberechtigte Fahrzeugführer wegen einer erheblichen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zum Zeitpunkt des Einfahrtentschlusses nicht erkennbar gewesen ist (BGH, Urt. v. 21.1.1986 – VI ZR 35/85 = DAR 1986, 142; KG Berlin, Urt. v. 21.6.2001 – 12 U 1147/00 = DAR 2002, 66). In dem Fall einer solch gravierenden Geschwindigkeitsübertretung haftet der "Vorfahrtsberechtigte" alleine (OLG Saarbrücken, Urt. v. 4.2.2003 – 3 U 103/02–14 = DAR 2004, 93; OLG Hamm, Urt. v. 2.2.2000 = 13 U 155/99 =DAR 2001, 362; KG Berlin, Urt. v. 22.6.1992 – 12 U 7008/91 = DAR 1992, 433).
Rz. 106
In den Fällen einer sog. halben Vorfahrt, d.h. den Vorfahrtsberechtigten trifft seinerseits nach rechts eine Wartepflicht, kann ein Mithaftungsanteil des Vorfahrtsberechtigten in Höhe von 20 % bereits unter dem Gesichtspunkt der durch die Einfahrt erhöhten Betriebsgefahr angemessen sein. Dies gilt erst recht, wenn auch der Vorfahrtsberechtigte seinerseits gegen die StVO verstößt. Der Vorfahrtsberechtigte muss gem. § 8 Abs. 2 S. 1 StVO mit mäßiger Geschwindigkeit auf die Kreuzung zu fahren und hat die Annährungsgeschwindigkeit zu wahren, die notwendig ist, um seinerseits sein Vorfahrtsrecht zu wahren. Verstößt er gegen die Pflicht, wird ihn i.d.R. eine Mithaftung von 25 % treffen. Entscheidend ist bei dieser Wertung vor allem, wie gut der Vorfahrtsberechtigte den Kreuzungsbereich einsehen konnte und ob er bei schlechten Sichtverhältnissen nicht seinerseits erst einmal anhalten musste. Auch in diesen Fällen kann es aber bei der alleinigen Haftung des wartepflichtigen Kraftfahrzeugführers verbleiben, wenn der Verstoß des Wartepflichtigen ungleich schwerer wiegt.
Rz. 107
Muster 4.39: Mithaftung bei halber Vorfahrt
Muster 4.39: Mithaftung bei "halber Vorfahrt"
Vorliegend besteht die Besonderheit, dass im Kreuzungsbereich der Grundsatz der sog. halben Vorfahrt eingreift. Hier trifft den Vorfahrtsberechtigten seinerseits nach rechts eine Wartepflicht. Er muss gem. § 8 Abs. 2 S. 1 StVO mit mäßiger Geschwindigkeit auf die Kreuzung zu fahren und hat die Annährungsgeschwindigkeit zu wahren, die notwendig ist, um seinerseits sein Vorfahrtsrecht zu wahren. Wird – wie hier – diese Pflicht v...