Rz. 158
Ereignet sich ein Unfall im unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einem Fahrstreifenwechsel, spricht gegen den Fahrstreifenwechsler der Beweis des ersten Anscheins, der einen schuldhaften Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO begründet. Für eine solche typische Konstellation eines Fahrstreifenwechsels spricht der Umstand, dass sich das Fahrzeug des Unfallverursachers infolge des Fahrstreifenwechsels noch in Schrägstellung befindet. Den strengen Sorgfaltsanforderungen des § 7 Abs. 5 StVO bei einem Fahrstreifenwechsel genügt ein Fahrer nur dann, wenn er vor dem Fahrstreifenwechsel in Innen- und Außenspiegel schaut, sich mit einem Schulterblick umsieht und den Wechsel mittels des Fahrtrichtungsanzeigers rechtzeitig anzeigt. Im Regelfall haftet der Fahrstreifenwechsler aufgrund eines überragenden Fehlverhaltens alleine.
Rz. 159
Der gegen ihn sprechende Anscheinsbeweis ist dann erschüttert, wenn der Unfall sich zu einem Zeitpunkt ereignete, zu dem der Fahrstreifenwechsel bereits abgeschlossen war. Dies ist in der Regel dann der Fall, wenn der den Fahrstreifen Wechselnde sich bereits vollständig in den Verkehr auf dem anderen Fahrstreifen integriert hat und der nachfolgende Verkehr sich auf dieses Kfz einstellen kann. Inwiefern trotz des Einordnens noch ein unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Zusammenhang zu dem Fahrstreifenwechsel besteht, ist eine Frage des Einzelfalles. Ohne einen solchen Zusammenhang greift der Beweis des ersten Anscheins jedenfalls nicht ein.
Rz. 160
Eine weitere Besonderheit liegt vor, wenn der Fahrstreifenwechsler auf der Autobahn mit dem von hinten herannahenden Fahrzeugführer kollidiert, der die Autobahnrichtgeschwindigkeit überschritten hat. Eine verschuldensunabhängige Mithaftung des nachfolgenden Verkehrsteilnehmers kann aber insbesondere bei einem Verkehrsunfall auf der Autobahn gegeben sein, wenn der nachfolgende Verkehr die Autobahnrichtgeschwindigkeit von 130 km/h zum Unfallzeitpunkt deutlich überschritten hat. Durch das zulässige, aber schnellere Fahren, als es die Richtgeschwindigkeit vorsieht, wird eine besondere Gefahrenlage geschaffen und es ist eine erhöhte Betriebsgefahr zu berücksichtigen. Dies setzt allerdings voraus, dass sich diese höhere Geschwindigkeit unstreitig bzw. erwiesenermaßen auf das Unfallgeschehen ausgewirkt hat. Die Beweislast für das Überschreiten der Geschwindigkeit wie auch die Ursächlichkeit trägt der Unfallgegner. Kann er diesen Beweis führen, kommt eine Mithaftung in einer Größenordnung von 20 % bzw. 30 % in Betracht.
Rz. 161
Muster 4.58: Mithaftung wegen Überschreitung der Autobahnrichtgeschwindigkeit
Muster 4.58: Mithaftung wegen Überschreitung der Autobahnrichtgeschwindigkeit
Unabhängig davon, ob ein Verschulden vorliegt, begründet bereits ein Überschreiten der auf der Autobahn gültigen Richtgeschwindigkeit eine Mithaftung, wenn dies zum Verkehrsunfall beigetragen hat. Durch das zulässige, aber schnellere Fahren als die Richtgeschwindigkeit wird eine besondere Gefahrenlage geschaffen. Die hierdurch begründete erhöhte Betriebsgefahr führt regelmäßig zu einer Mithaftung von 30 % (OLG Düsseldorf, Urt. v. 21.11.2017 – I 1 U 44/17 = zfs 2018, 376; OLG Jena, Urt. v. 13.9.2005 – 8 U 28/05 = MDR 2006, 748; OLG Hamm, Urt. v. 6.2.2003 – 6 U 190/02 = r+s 2003, 342;) bzw. zumindest 25 % (OLG Schleswig Holstein, Urt. v. 30.7.2009 –7 U 12/09 – juris; LG Wiesbaden, Urt. v. 27.9.2016 – 8 O 94/14 – juris). Überschreitet ein Fahrzeugführer bei der Fahrt auf der Autobahn die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h kann er sich jedenfalls nicht auf eine Unabwendbarkeit berufen (BGH, Urt. v. 17.3.1992 – VI ZR 62/91 – juris; OLG Frankfurt, Urt. v. 9.4.2015 – 22 U 238/13 – juris; OLG Nürnberg, Urt. v. 9.9.2010 – 13 U 712/10 = DAR 2010, 707).
Rz. 162
Da der die Fahrspur wechselnde Fahrzeugführer nach dem Maßstab des § 286 ZPO die Beweislast dafür trägt, dass bei Einhaltung der Autobahnrichtgeschwindigkeit der Unfall vermieden worden wäre, wirken sich verbleibende Zweifel zu seinen Lasten aus. Im Übrigen ist bei der Haftungsabwägung das Fehlverhalten des Fahrstreifenwechslers zu gewichten und dies kann bei einem schwerwiegenden Sorgfaltspflichtverstoß zur alleinigen Haftung führen. Ein solches überragendes Fehlverhalten liegt z.B. vor, wenn der Fahrstreifenwechsler direkt von der Beschleunigungsspur über mehrere Fahrstreifen auf die links gelegene Überholspur gezogen ist. In diesem Fall ist ebenfalls ein Verstoß gegen die Vorschrift des § 18 Abs. 3 StVO, teilweise sogar § 10 Abs. 1 StVO zu berücksichtigen. Auch ist die Überschreitung einer Geschwindigkeitsgrenze (und damit auch der Autobahnrichtgeschwindigkeit) grundsätzlich erst dann relevant, wenn die Überschreitung mehr als 10 % beträgt.
Rz. 163
Muster 4.59: Unerhebliche Überschreitung der Richtgeschwindigkeit
Muster 4.59: Unerhebliche Überschreitung der Richtgeschwindigkeit
Eine angebliche Überschreitung der Autobahnrichtgeschwindigkeit kann...