Rz. 21
Nahezu jeder Verkehrsunfall unter Beteiligung zweier Kraftfahrzeuge wird denknotwendig dadurch begründet, dass zumindest einer der beiden Fahrzeugführer ein gefahrenträchtiges Fahrmanöver vornimmt, welches zu dem Verkehrsunfall führt und i.d.R. gegen die StVO verstößt. Dies zieht wie dargelegt eine erhöhte Betriebsgefahr dieses Kraftfahrzeugs und einen höheren Haftungsanteil nach sich. Im Gegenzug sinkt der Haftungsanteil des anderen Teils. Zu entscheiden ist in diesen Fällen, welche Höhe jeweils die beiden Haftungsanteile aufweisen und wie diese sog. Haftungsquote zu bestimmen ist. Insbesondere geht es darum, ob den anderen Teil überhaupt eine verbleibende Haftung trifft.
1. "100 zu 0"-Fälle
Rz. 22
Ein Fahrzeugführer verstößt in schuldhafter Weise gegen sog. Kardinal- bzw. Garantiepflichten im Straßenverkehr, während bei dem anderen Teil nur die einfache Betriebsgefahr verbleibt. In diesem Fall treten die einfache Betriebsgefahr des anderen Fahrzeugs und damit die Haftung des anderen Teils hinter der erhöhten Betriebsgefahr des anderen Fahrzeugs und dem (zusätzlich festgestellten) Verschulden des anderen Fahrzeugführers zurück.
Angesichts der an sich vom Gesetz vorgesehenen umfassenden Gefährdungshaftung des Halters tritt seine Haftung i.d.R. nur dann vollständig zurück, wenn neben einer erhöhten Betriebsgefahr auch ein schuldhaftes Verhalten des anderen Teils gegeben ist. In der Rechtsprechung wird ein schuldhaftes Verhalten i.d.R. bei einem Verstoß gegen eine Kardinal- oder Garantiepflicht nach der StVO bejaht, da der Fahrzeugführer insoweit nahe liegende Verhaltenspflichten der StVO nicht sorgfaltsgemäß beachtet hat. Letztendlich ist und bleibt dies aber eine Entscheidung des Einzelfalls. Fehlt es an einem solchen besonders schwerwiegender Verstoß (bei sogenannten verkehrsrechtlichen "Todsünden") im Straßenverkehr, verbleibt es bei der Mithaftung aus der einfachen Betriebsgefahr in Höhe von mindestens 20 %.
2. Anscheinsbeweis und typische "100 zu 0"-Fälle
Rz. 23
Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass bei einer Vielzahl der oben dargelegten Kardinalvorschriften der StVO bei bestimmten Unfallkonstellationen im Wege des Anscheinsbeweises ein schuldhafter Verstoß vermutet wird. Ein solcher Anscheinsbeweis liegt vor, wenn feststehende Tatsachen nach der allgemeinen Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache für den Erfolgseintritt hinweisen. Besteht über die einen Anscheinsbeweis begründenden Umstände Streit und bleibt das Unfallgeschehen insoweit unaufklärbar, greifen die Grundsätze eines Anscheinsbeweises dagegen nicht. Im Übrigen ist ein Anscheinsbeweis dann erschüttert, wenn Umstände bewiesen sind, die einen anderen als den typischen Geschehensablauf ernstlich als möglich erscheinen lassen. In diesem Fall muss die beweisbelastete Partei die Anspruchsvoraussetzungen "voll" beweisen.
Rz. 24
Muster 4.6: Erschütterung Anscheinsbeweis
Muster 4.6: Erschütterung Anscheinsbeweis
Vorliegend kann dahinstehen, ob tatsächlich der behauptete Anscheinsbeweis besteht, denn dieser wäre ohnehin erschüttert. Ein Anscheinsbeweis ist bereits dann erschüttert, wenn die auf Tatsachen gestützte ernsthafte Möglichkeit besteht, dass der Verkehrsunfall auf einem anderen atypischen Geschehensablauf beruht (BGH, Urt. v. 21.1.1986 – VI ZR 35/85 = zfs 1986, 195; Nugel NJW 2013, 193 m.w.N.). Dafür genügt es, dass durch bestimmte Tatsachen – z.B. belegt durch ein Sachverständigengutachten – ein Ablauf ebenfalls zumindest als möglich erachtet wird, ohne dass ein vollständiger "Gegenbeweis" geführt werden muss (OLG Düsseldorf, Urt. v. 20.9.2016 – I 1 U 146 -15 – juris).
Rz. 25
Häufig kann bereits über den Hinweis zu diesem Anscheinsbeweis eine Regulierung der Haftpflichtversicherung erreicht werden. Im Prozess werden die meisten Fälle bei widerstreitenden Zeugenangaben bzw. unterschiedlichen Aussagen der beteiligten Fahrzeugführer über den Anscheinsbeweis gelöst. Diese Konstellationen zu kennen, ist daher von entscheidender Bedeutung für den Verkehrsjuristen. Da sich viele hiermit verbundene Grundsatzfragen wiederholen, kann nach der Erfahrung des Verfassers ein erheblicher Arbeitsaufwand erspart werden, wenn die wichtigsten Grundsätze zu diesen Konstellationen in Mustern erfasst werden. Die wichtigsten Muster zu den "100 zu 0"-Konstellationen werden im Folgenden dargestellt.
a) Auffahrunfall
Rz. 26
Fährt ein Ver...