Überholen von längeren Fahrzeugkolonnen: Mitverschulden bei Kollision?
Ein Motorradfahrer überholte eine Fahrzeugkolonne von neun bis zehn Fahrzeugen. Dabei kam es zu einem Zusammenstoß mit einem aus der Kolonne links abbiegenden Pkw. Der Motorradfahrer stürzte, erlitt erhebliche Verletzungen und dauerhafte Gesundheitsschäden, unter anderem eine Lähmung des linken Armes.
Das Landgericht sah die Haftungsquote des beklagten Autofahrers bei nur 50 Prozent. Der Motorradfahrer habe sich nicht wie ein Idealfahrer verhalten. Das Überholen der Fahrzeugkolonne in geringem Abstand bei wenig Ausweichmöglichkeiten sei ein erheblich risikobehafteter Vorgang gewesen, so das Gericht.
OLG sieht nur geringes Mitverschulden des Motorradfahrers
Das OLG Celle kam zu einer anderen Einschätzung und sah einen Anspruch des Motorradfahrers auf Ersatz des Schadens in Höhe von 75 Prozent.
Zwar sei das Überholen bei unklarer Verkehrslage nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO unzulässig. Allein der Umstand, dass der Motorradfahrer eine Kolonne von mehreren Fahrzeugen überholt habe, begründe aber noch keinen solchen Verstoß. Das Überholen einer Fahrzeugkolonne ist nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 nicht generell verboten.
Wer eine Kolonne überholt, muss nicht mit unvermittelt nach links ausscherenden Fahrzeugen rechnen
Eine unklare Verkehrslage bestehe nur, wenn sich nicht beurteilen lasse, was Vorausfahrende sogleich tun werden. Ein Überholender müsse nicht damit rechnen, dass ein in einer Kolonne befindliches Fahrzeug unvermittelt nach links ausschert, solange keine besonderen Umstände hinzutreten, die für ein unmittelbar folgendes Ausscheren sprechen.
Was beim Überholen von Fahrzeugkolonnen gilt:
- Wer ordnungsgemäß zum Überholen ansetzt, darf darauf vertrauen, dass sich kein vorausfahrender Fahrzeugführer verkehrswidrig verhält und vorschriftswidrig ausschert oder nach links abbiegt (vgl. BGH, Urteil v. 23.09.1986, VI ZR 46/85, OLG Karlsruhe, Urteil v. 10.09.2018, 1 U 155/17).
- Nichts anderes gilt im Fall einer Fahrzeugkolonne.
- Insbesondere der Versuch, in einem Zug zwei voranfahrende Fahrzeuge zu überholen, stellt nicht stets eine besonders gefahrenträchtige Fahrweise dar, die bei einer nach § 17 StVG zu treffenden Abwägung ins Gewicht fällt.
Leicht erhöhte Betriebsgefahr führt zu einer Haftungsquote des Motorradfahrers von 25 Prozent
Beim Motorradfahrer sei von einer leicht erhöhten Betriebsgefahr auszugehen und deshalb von einer Haftungsquote von 25 Prozent. Zwar war das Überholen der Fahrzeugkolonne erlaubt, jedoch mit nicht unerheblichen Risiken verbunden. Schon die Länge der Fahrzeugkolonne von neun bis zehn Fahrzeugen vervielfältigte die Gefahren, so das Gericht.
Durch die Geschwindigkeit von 100 km/h sei eine rechtzeitige Reaktion des Motorradfahrers zusätzlich erschwert worden.
(OLG Celle, Urteil v. 8.6.2022, 14 U 118/21)
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