Christoph Teichmann, Ralf Knaier
Rz. 34
Diejenigen Staaten, in denen sich die Hauptverwaltung einer ausländischen Briefkastengesellschaft ansiedelt, unterliegen nach den Entscheidungen Centros, Überseering und Inspire Art engen Grenzen bei der Anwendung ihres eigenen Rechts. Die deutsche Rechtsprechung zog daraus die Konsequenz, im Anwendungsbereich der europäischen Niederlassungsfreiheit von der Sitztheorie zur Gründungstheorie überzugehen. Das gilt nicht nur für die Mitgliedstaaten der EU, sondern auch für diejenigen des EWR. Für eine Gesellschaft, die nach dem Recht eines EU- oder eines EWR-Staates wirksam gegründet wurde, gilt daher selbst nach einer Verlegung des Verwaltungssitzes weiterhin das Gründungsstatut. Die Gesellschaft behält ihre vom Herkunftsstaat verliehene Rechtsfähigkeit und wird in allen gesellschaftsrechtlichen Fragen nach dem Gründungsrecht behandelt (zur Reichweite des Gesellschaftsstatuts siehe § 1 Rdn 57 ff.). Die Verlegung des Verwaltungssitzes bleibt dadurch – zumindest auf der Ebene des materiellen Gesellschaftsrechts – ohne Auswirkungen, sofern nicht der Herkunftsstaat dem Wegzug Beschränkungen auferlegt.
Rz. 35
Inwieweit der Aufnahmestaat zum Schutze inländischer Interessen sein eigenes Recht auf eine ausländische Gesellschaft anwenden darf, ist heftig umstritten. Viele Autoren entnehmen der Niederlassungsfreiheit die Vorgabe, umfassend das Gesellschaftsrecht des Herkunftsstaates anzuwenden. Andere wollen zwischen der Gründung der Gesellschaft und ihrer Tätigkeit differenzieren. Offenbar verstehen auch keineswegs alle Mitgliedstaaten der EU die EuGH-Rechtsprechung in dem Sinne, dass die Sitztheorie gänzlich aufzugeben ist. Kollisionsrechtlich läuft die Diskussion auf die Frage hinaus, ob in einzelnen Sachfragen Sonderanknüpfungen zulässig sind.
Rz. 36
Um zu klären, ob die Niederlassungsfreiheit Sonderanknüpfungen zulässt, ist vom Wortlaut der Art. 49 und Art. 54 AEUV auszugehen: Eine Gesellschaft, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates wirksam gegründet wurde, genießt Niederlassungsfreiheit (Art. 54 Abs. 1 AEUV). Daraus ergibt sich, dass die wirksame Gründung der Gesellschaft, die nach dem Recht eines Mitgliedstaates erfolgte, von anderen Mitgliedstaaten nicht mehr in Frage gestellt werden darf. Die Gesellschaft ist damit als Trägerin der Niederlassungsfreiheit entstanden und kann sich auf Art. 54 i.V.m. Art. 49 AEUV berufen. Folglich darf ihre Existenz nicht angezweifelt werden, denn dies käme einer Negierung der Niederlassungsfreiheit gleich.
Rz. 37
In der Inspire Art-Entscheidung ergab sich die unzulässige Beschränkung daraus, dass der Aufnahmestaat die Niederlassung einer "nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft" von Voraussetzungen abhängig machen wollte, "die im innerstaatlichen Recht für die Gründung von Gesellschaften bezüglich des Mindestkapitals und der Haftung der Geschäftsführer vorgegeben sind". Der spezifische Vorwurf bestand darin, dass der Aufnahmestaat im Grunde die ausländische Gründung – wegen der dort geltenden niedrigeren Schutzstandards – am Maßstab der inländischen Gründungsvorschriften überprüfen wollte. Die Gründung nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates (hier: das Vereinigte Königreich) ist aber, nach Art. 54 AEUV, hinreichende Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Niederlassungsfreiheit. Es ist daher unzulässig, einer im Ausland entstandenen Gesellschaft die inländischen Gründungsvorschriften ganz oder in Teilen aufzuzwingen. Damit trägt die Entscheidung nicht zwingend die Schlussfolgerung, das gesamte Gesellschaftsrecht des Herkunftsstaates müsse übernommen werden.
Rz. 38
Die Gründung nach den Vorschriften eines Mitgliedstaates entscheidet zunächst nur über die Entstehung der Gesellschaft als Inhaberin der Niederlassungsfreiheit. Für den konkreten Inhalt der Niederlassungsfreiheit verweist Art. 54 AEUV auf die Regelung des Art. 49 AEUV. Dieser gewährt Niederlassungsfreiheit in anderen Mitgliedstaaten "nach den Bestimmungen des Aufnahmestaats für seine eigenen Angehörigen" (Art. 49 Abs. 2 AEUV). Daraus folgt, dass die Anwendung inländischen Rechts keineswegs von vornherein ausgeschlossen ist; nach der Konstruktion des Art. 49 Abs. 2 AEUV ist sie sogar der Regelfall. Allerdings darf die Anwendung inländischen Rechts nicht diskriminierend wirken und die zuziehende Gesellschaft nicht übermäßig behindern. In diesem Rahmen lässt auch der EuGH Sonderanknüpfungen im Bereich des Gesellschaftsrechts zu. Nicht anders ist der Hinweis zu verstehen, dass inländische Maßnahmen zum Schutz der Gläubiger und der Gesellschafter gerechtfertigt sein können. Denn bei dem Schutz von Gläubigern und Gesellschaftern handelt es sich um originäre Materien des Gesellschaftsrechts. Wenn der EuGH in diesen Bereichen eine Rechtfertigung für möglich hält, akzeptiert er insoweit eine Sonderanknüpfung inländischen Gesellschaftsrechts.
Rz. 39
Diese einschränkende Interpretation der EuGH-Rechtsprechung entspricht der allgemeinen D...