Christoph Teichmann, Ralf Knaier
Rz. 27
Die grenzüberschreitende Verlegung des Verwaltungssitzes kann, wie gezeigt, für die betroffene Gesellschaft zu nachteiligen Rechtsfolgen führen. Ursache kann das Recht des Herkunftsstaates sein, indem dieser in seinem materiellen Gesellschaftsrecht Hürden errichtet oder in seinem Kollisionsrecht der Gesellschaft die Anwendung des bislang geltenden Gesellschaftsrechts entzieht. Behinderungen können aber auch vom Aufnahmestaat ausgehen, wenn dieser durch Anwendung seines Kollisionsrechts einen Statutenwechsel herbeiführt und die Gesellschaft anschließend in eine inländische Rechtsform umqualifiziert, die nicht den Vorstellungen der Gründer entspricht.
Rz. 28
Eine Gesellschaft, die nach den Vorschriften eines EU-Mitgliedstaates gegründet wurde, genießt Niederlassungsfreiheit in anderen Mitgliedstaaten (Art. 54 AEUV). Inwieweit die Niederlassungsfreiheit Beschränkungen der Sitzverlegung entgegensteht, hängt davon ab, ob die Beschränkung vom Herkunftsstaat oder vom Aufnahmestaat ausgeht. Beschränkungen durch den Aufnahmestaat sind nur in engen Grenzen möglich (vgl. Rdn 29 ff.), während der EuGH Beschränkungen, die der Herkunftsstaat auferlegt, mit größerer Nachsicht behandelt (siehe Rdn 40 ff.).
1. Beschränkungen durch den Aufnahmestaat
a) Grundaussagen der EuGH-Rechtsprechung
Rz. 29
Die EuGH-Entscheidungen in Sachen Centros, Überseering und Inspire Art betrafen Sachverhalte, bei denen eine Gesellschaft, die in einem EU-Mitgliedstaat wirksam gegründet worden war, ihre Hauptverwaltung in einem anderen Staat ansiedeln wollte und daran von den betreffenden Aufnahmestaaten gehindert wurde (vgl. auch § 1 Rdn 17 ff.). Die Rechts- und Parteifähigkeit solcher Gesellschaften ist anzuerkennen.
Rz. 30
Eventuelle Beschränkungen (z.B. das Erfordernis eines Mindestkapitals) müssen sich dem europäischen Rechtfertigungstest stellen:
Rz. 31
Die Beschränkung ist nur zulässig, wenn sie zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entspricht, in nichtdiskriminierender Weise angewandt wird und zur Zielerreichung geeignet und erforderlich ist. Der Gläubigerschutz ist zwar ein zwingendes Allgemeininteresse, das Mindestkapital ist aber nach Auffassung des EuGH als Schutzinstrument nicht erforderlich, weil die Gläubiger hinreichend darüber unterrichtet seien, dass es sich um eine Gesellschaft ausländischen Rechts handele, die anderen Gründungsvorschriften unterliege als inländische Gesellschaften.
Rz. 32
Bei Lichte besehen hat der EuGH mit den Entscheidungen Centros und Inspire Art die Konstruktion der grenzüberschreitenden "Briefkastengesellschaft" dem Schutz der Niederlassungsfreiheit unterstellt. Die Centros Ltd. und Inspire Art Ltd. waren von vornherein zu dem Zweck errichtet worden, den Hauptsitz der Gesellschaft nicht in England, sondern in Dänemark bzw. in den Niederlanden anzusiedeln. Nach Auffassung des EuGH dürfen Staatsangehörige eines Mitgliedstaates die Gründung einer Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat auch mit der Motivation betreiben, die dort geltende größere Freiheit der gesellschaftsrechtlichen Vorschriften auszunutzen. Die neu gegründete Gesellschaft muss im Staat ihrer Gründung keine Geschäftstätigkeit entfalten, um in den Genuss der Niederlassungsfreiheit zu gelangen. Sie kann daher unter dem Schutz des AEUV in anderen Mitgliedstaaten ihre Hauptverwaltung ansiedeln, obwohl sie im Herkunftsstaat nur als "Briefkastengesellschaft" existiert. Im Gefolge dieser EuGH-Entscheidungen kam es einem erheblichen Aufkommen von Briefkastengesellschaften (vgl. oben Rdn 10; zu den Folgeproblemen, auch nach dem Brexit, ausführlich § 2 Rdn 39 ff.).
Rz. 33
Eine Trendwende deutete die Cadbury Schweppes-Entscheidung aus dem Jahre 2006 an. Eine englische Gesellschaft hatte eine Tochtergesellschaft in Irland gegründet, um die in England erzielten Gewinne dorthin zu verlagern und diese dem günstigeren irischen Steuerrecht zu unterwerfen. Nach Auffassung des EuGH genießt diese steuervermeidende Briefkasten-Konstruktion keinen Schutz. Es handele sich um "rein künstliche Gestaltungen, die dazu bestimmt sind, der normalerweise geschuldeten nationalen Steuer zu entgehen". Einige Autoren sehen darin eine grundlegende Trendwende, wonach die Gründung einer Briefkastengesellschaft nicht mehr von der Niederlassungsfreiheit geschützt sei. Die Konstellation des Falles rechtfertigt diesen Schluss jedoch nicht. Die in Irland angesiedelte Briefkastengesellschaft wurde in ihrer Existenz vom EuGH nicht in Frage gestellt; der irischen Gesellschaft waren auch keinerlei Beschränkungen auferlegt worden. Die Beschränkung richtete sich vielmehr gegen die englische Muttergesellschaft. Dieser wurde untersagt, ihre in England steuerpflichtigen Gewinne auf die irische Tochtergesellschaft zu verlagern. Es handelte sich somit um eine Beschränkung durch den Herkunftsstaat, welche die Errichtung einer Auslandsniederlassung (in Form der irischen Tochtergesellschaft) weniger attraktiv machte. Cadbury Schweppes ist insoweit ein Wegzugsfall und liefert dah...