Christoph Teichmann, Ralf Knaier
1. Sukzessive Anwendung der beteiligten Rechtsordnungen
Rz. 88
Die aktuell bestehenden Möglichkeiten, den Satzungssitz einer GmbH grenzüberschreitend zu verlegen, existieren nur auf Grundlage der primärrechtlichen Niederlassungsfreiheit und der EuGH-Rechtsprechung hierzu (vgl. Rdn 53 ff.). Daraus folgt, dass ein grenzüberschreitender Formwechsel ermöglicht werden muss, wenn ein innerstaatlicher Formwechsel möglich wäre. Diese Voraussetzung dürfte bei allen EU-Mitgliedstaaten gegeben sein. Soweit ersichtlich, gestattet derzeit kein Mitgliedstaat der EU eine Satzungssitzverlegung ins Ausland unter Wahrung der Rechtsform, sodass eine grenzüberschreitende Satzungssitzverlegung zwingend mit einem grenzüberschreitenden Formwechsel einhergeht. Bei Durchführung des grenzüberschreitenden Formwechsels kommen sowohl die Rechtsordnung des Wegzugsstaates, als auch die Rechtsordnung des Zuzugsstaates komplementär zur Anwendung. Im Rahmen dieser "Vereinigungstheorie" sind die Vorgaben der beteiligten Rechtsordnungen jedoch nicht schlicht zu kumulieren. Vielmehr sind Vorgänge, die nur einen Mitgliedstaat allein betreffen, ausschließlich nach dessen Recht zu beurteilen (auch unter dem Begriff "Abschnittstheorie" zusammengefasst). Zu einer eigentlichen Kombination der Rechtsordnungen kommt es nur, wenn die Regelungsmaterie beide Mitgliedstaaten gleichermaßen betrifft und nur einheitlich geregelt werden kann.
Rz. 89
Aus deutscher Sicht stellt sich die Frage, welche Regelungen hierfür herangezogen werden sollen. Das Umwandlungsgesetz regelt nur die grenzüberschreitende Verschmelzung, nicht aber den grenzüberschreitenden Formwechsel. In der Literatur wurden bereits nach der VALE-Entscheidung verschiedene Ansätze vorgeschlagen. Einige Autoren plädieren für eine entsprechende Anwendung der §§ 190 ff. UmwG. Als weitere Analogiegrundlage werden die unionalen Regelungen zur SE (Art. 8 SE-VO) sowie die Ausführungsvorschriften im deutschen Recht (§§ 12 ff. SE-AG) vorgeschlagen. Zum Teil wird auch die Heranziehung der §§ 122a ff. UmwG, also der Vorschriften der grenzüberschreitenden Verschmelzung angeregt.
Rz. 90
Auf Basis einer unionsrechtskonformen Auslegung des § 1 Abs. 1 Nr. 4 UmwG sprechen gute Gründe für eine analoge Anwendung der §§ 190 ff. UmwG. Allerdings berücksichtigen diese Vorschriften nicht den besonderen grenzüberschreitenden Charakter der Transaktion. Gegen die insoweit vorgeschlagene analoge Anwendung der Vorschriften der SE-VO wird eingewandt, dies könne zu einer Benachteiligung von kleinen Unternehmen führen. Die Regeln der SE seien für die Verwirklichung einer Zusammenarbeit von international tätigen Großunternehmen konzipiert worden und nicht für die GmbH, die das Leitbild eines eingegrenzten Gesellschafterkreises vor Augen habe. Allerdings haben die speziellen Vorschriften der SE-Sitzverlegung, um deren analoge Anwendung es hier geht (insb. Austrittsrecht der Minderheitsgesellschafter und Sicherheitsleistung für Gläubiger), keinen Bezug zur Unternehmensgröße; sie entsprechen vielmehr den Schutzinstrumenten, die auch bei der grenzüberschreitenden Verschmelzung zu beachten sind, die wiederum für AG und GmbH gleichermaßen gelten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Schutzvorschriften nur dann angezeigt sind, wenn eine Gesellschaft die deutsche Rechtsordnung verlässt. Bei einem Zuzug von Gesellschaften ist daher eine Anwendung der §§ 190 ff. UmwG ausreichend, während bei einem Wegzug die Parallele zur grenzüberschreitenden Verschmelzung beachtet werden sollte. In der Praxis empfiehlt es sich, angesichts der weiterhin unsicheren Rechtslage und der im Ergebnis nur geringen Unterschiede, die Vorgaben beider Regelungsregime zu beachten. Bei der rechtspraktischen Durchführung der grenzüberschreitenden Satzungssitzverlegung empfiehlt sich zudem eine vorherige Abstimmung mit den beteiligten Registergerichten.