Dr. iur. Frank Fad, Prof. Dr. Günther Schneider
Rz. 195
Gemäß § 8 Nr. 1 StVG gelten die Vorschriften des § 7 StVG nicht, wenn der Unfall durch ein Kraftfahrzeug verursacht wurde, das auf ebener Bahn mit keiner höheren Geschwindigkeit als 20 km/h fahren kann, oder durch einen im Unfallzeitpunkt mit einem solchen Fahrzeug verbundenen Anhänger. Diese Ausnahmevorschrift stellt auf die konstruktionsbedingte Beschaffenheit des Fahrzeugs ab. In ihren Anwendungsbereich fallen daher Fahrzeuge, bei denen eine Überschreitung der 20-km-Grenze schon bauartbedingt schlechthin ausgeschlossen ist oder bei denen die Bauart an sich eine höhere Geschwindigkeit theoretisch zuließe, deren Erreichen aber durch bestimmte – herstellerseits angebrachte – Vorrichtungen und Sperren verhindert wird. Mit dieser Rechtsprechung hat der BGH eine ältere, seit 1915 geltende Rechtsprechung aufgegeben, die einen Ausschluss der Gefährdungshaftung schon dann verneint hatte, wenn die bloße Möglichkeit bestand, diese Vorrichtungen von einem geübten Monteur ohne längere oder schwierigere Arbeit beseitigen zu lassen. Nach Wortlaut und Normzweck ist § 8 StVG nicht schon dann unanwendbar, wenn lediglich die bloße Möglichkeit der Beseitigung solcher Vorrichtungen besteht. Voraussetzung für die Nichtanwendbarkeit ist vielmehr, dass diese Vorrichtung tatsächlich durch eine auf die Erzielung einer höheren Geschwindigkeit gerichtete Manipulation beseitigt worden ist. Dem ist zuzustimmen. Die typischen Risiken, die ein Eingreifen der Gefährdungshaftung gebieten, haften einem mit geschwindigkeitsreduzierenden Vorrichtungen ausgestatteten Fahrzeug im Unfallzeitpunkt gerade nicht an, jedenfalls solange nicht, bis diese Vorrichtungen tatsächlich beseitigt worden sind. § 8 Nr. 1 StVG findet deshalb dann keine Anwendung, wenn ein Fahrzeug zwar seiner ursprünglichen Bauart nach die Höchstgeschwindigkeit nicht überschreiten konnte, aber durch besondere technische Vorrichtungen zeitweise schneller fahren kann, sei es auch nur für wenige hundert Meter. Dagegen hat der BGH schon nach seiner früheren (überholten) Rechtsauffassung entschieden, dass die Möglichkeit, einen Mähdrescher durch Ausstattung mit größeren Reifen (kombiniert mit einer Drehzahlerhöhung des Motors) zu einem Fahrzeug mit einer höheren Geschwindigkeit als 20 km/h umzurüsten, die Anwendung des § 8 Nr. 1 StVG zum Unfallzeitpunkt nicht ausschließt.
Rz. 196
Die Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h muss aus technischen Gründen gegeben sein. Sie kann unabhängig von einer serienmäßigen Herstellung zunächst durch die Bauart des einzelnen Fahrzeugs gewährleistet werden. Es kommt dabei nicht auf den Zeitpunkt der Herstellung oder der Zulassung, sondern auf den Unfallzeitpunkt und die Beschaffenheit des Fahrzeugs zu diesem Zeitpunkt an.
Rz. 197
Bei Pedelecs, deren elektrische Tretunterstützung sich bei Erreichen einer bestimmten Geschwindigkeit abschaltet, kommt es auf das Erreichen dieser Geschwindigkeit an. Schaltet sich die Tretunterstützung also spätestens bei Erreichen von 20 km/h ab, ist § 8 Nr. 1 StVG erfüllt. Dass durch Muskelkraft auch höhere Geschwindigkeiten erreicht werden können, ist unerheblich, weil das Gefahrenpotenzial insoweit nicht über das eines Fahrrads hinausgeht. Schaltet sich die Tretunterstützung aber erst bei einer Geschwindigkeit von mehr als 20 km/h ab, greift § 8 Nr. 1 StVG nicht ein. Dass die Tretunterstützung sich auch bei geringeren Geschwindigkeiten abschaltet, sobald der Fahrer das Treten einstellt, ist für die Beurteilung unter dem Gesichtspunkt des § 8 Nr. 1 StVG unerheblich. Fahrzeuge, die nur eine geringe Geschwindigkeit erreichen können, sind typischerweise weniger gefährlich, womit die Ausnahme von der Gefährdungshaftung gerechtfertigt ist. Entscheidend ist, ob das Pedelec mit Motorunterstützung eine bestimmte Geschwindigkeit erreicht, auch wenn diese nur im Zusammenwirken mit der Muskelkraft erzielt wird.