Dr. iur. Frank Fad, Prof. Dr. Günther Schneider
Rz. 102
Die Ersatzpflicht ist nach § 7 Abs. 2 StVG "ausgeschlossen, wenn der Unfall durch höhere Gewalt verursacht wird". Die Vorschrift ist seit dem 1.8.2002 auf Unfälle anzuwenden. Die vor dem 1.8.2002 bestehende Entlastungsmöglichkeit des "unabwendbaren Ereignisses" hat der Gesetzgeber mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften vom 19.7.2002 durch Anknüpfung an das Merkmal der höheren Gewalt ersetzt. Für die Rechtsänderung waren sowohl rechtsdogmatische Gründe als auch praktische Erwägungen maßgebend. Der Gesetzgeber verfolgte damit das Ziel, die Gefährdungshaftung der Kraftfahrzeughalter in Bezug auf die Entlastungsmöglichkeiten anderer Gefährdungshaftungstatbestände (§ 1 Abs. 2, 2 Abs. 3 Nr. 3 HaftPflG § 89 Abs. 2 S. 3 WHG) anzupassen. Gleichzeitig sollte vor allem die Rechtsstellung der nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmer, insbesondere von Kindern und hilfsbedürftigen und älteren Menschen gestärkt werden. Gegenüber Ansprüchen anderer Kraftfahrzeughalter und -führer, gegenüber Tierhaltern und Eisenbahnunternehmern kann sich der Kraftfahrzeughalter aber nach wie vor auf die darüber hinausgehende Einwendung des unabwendbaren Ereignisses gemäß § 17 Abs. 3, 4 StVG berufen (dazu näher unter Rdn 239). Der Anwendungsbereich der Einwendung des § 7 Abs. 2 StVG beschränkt sich daher im Wesentlichen auf die Haftung gegenüber nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern.
Rz. 103
"Höhere Gewalt" ist im deutschen Recht der gebräuchlichste Befreiungsgrund bei verschuldensunabhängiger Haftung (vgl. z.B. § 701 Abs. 3 BGB, §§ 1 Abs. 2, 2 Abs. 3 Nr. 3 HpflG, § 89 Abs. 2 S. 3 WHG). In der Tradition der Rechtsprechung von Reichsgericht und Bundesgerichtshof hat der Begriff in diesem Kontext eine feste Formel erhalten. Danach ist höhere Gewalt im Sinne von § 7 Abs. 2 StVG ein außergewöhnliches betriebsfremdes, von außen durch elementare Naturkräfte oder durch Handlungen dritter Personen herbeigeführtes und nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbares Ereignis, das mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch nach den Umständen äußerste, vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet werden kann und das auch nicht im Hinblick auf seine Häufigkeit in Kauf genommen werden muss. Mithin müssen drei Merkmale kumulativ erfüllt sein: Es muss sich um eine Einwirkung von außen handeln, die außergewöhnlich und nicht abwendbar ist.
Rz. 104
Das Fehlverhalten anderer Verkehrsteilnehmer, insbesondere von Kindern, ist nicht außergewöhnlich und begründet deshalb auch keine höhere Gewalt. Höhere Gewalt wurde beispielsweise verneint:
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Wird ein Radfahrer, der einen an einer Bushaltestelle vorbeiführenden Radweg benutzt, von einem dort wartenden Schüler infolge Unachtsamkeit so angestoßen, dass er zu Fall kommt und von einem gerade wieder anfahrenden Bus überfahren wird, so stellt dieses Ereignis für den Halter des Busses keine höhere Gewalt dar. |
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Läuft ein Kind zwischen zwei am Straßenrand parkenden Pkw plötzlich auf die Fahrbahn, ohne dass der vorbeifahrende Kraftfahrer dies erkennen konnte und musste, mag ein unabwendbare Ereignis (§ 17 Abs. 3 StVG) vorliegen. Höhere Gewalt im Sinne von § 7 Abs. 2 StVG scheidet jedoch aus, weil es sich um kein außergewöhnliches Ereignis handelt. |
Rz. 105
Höhere Gewalt ist beispielsweise zu bejahen:
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Vorsätzliche Eingriffe Dritter in den Straßenverkehr, insbesondere solche, die von § 315b StGB erfasst werden, können sich für den Kraftfahrer als höhere Gewalt erweisen, wenn er mit ihnen nicht zu rechnen braucht und ihnen auch bei äußerster Sorgfalt nicht mehr rechtzeitig entgegenwirken kann. Das kann der Fall sein, wenn Steine von einer Straßenbrücke auf die Fahrbahn geworfen werden oder ein Attentäter in ein fahrendes Fahrzeug schießt. Höhere Gewalt kommt aber auch in Betracht, wenn ein Fußgänger sich in Selbstmordabsicht vor das Auto stürzt oder ein Straftäter ihn direkt vor einen fahrenden Pkw stößt. |
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Naturkatastrophen wie Erdbeben, Erdrutsche, Felsabbrüche oder Lawinen, auf die der Kraftfahrer nicht mehr reagieren kann, bilden Hindernisse auf der Fahrbahn oder bringen das Kraftfahrzeug von der Fahrbahn ab. |