Rz. 19
Die Auslegungsregel des § 2107 BGB ist ein weiteres Beispiel für die Berücksichtigung von Abkömmlingen durch das Gesetz. Voraussetzung für die Anwendbarkeit ist, dass zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung ein tatsächlich oder aus Sicht des Erblassers vermeintlich kinderloser Abkömmling als Vorerbe eingesetzt und der Nacherbfall ausschließlich oder über § 2106 Abs. 1 BGB bei dessen Tod eintritt. Ergebnis der Anwendung von § 2107 BGB ist, dass der Nacherbe auflösend bedingt mit dem Vorhandensein eines Abkömmlings des Vorerben eingesetzt ist. Liegt die Bedingung zum Zeitpunkt des Todes des Vorerben vor, dann ist der Abkömmling vom Erbfall an als Vollerbe anzusehen, die Nacherbschaft gilt als nicht angeordnet.
Hält der Erblasser im Testament allerdings bereits fest, dass zukünftig geborene Enkel als Nacherben eingesetzt werden, ist für eine Anwendung von § 2107 BGB kein Raum.
Rz. 20
Hieraus ergeben sich Rechtsfragen. Für den Nacherben gelten sämtliche Vorschriften der Nacherbschaft, sollte beim Tod des Vorerben kein Abkömmling des Vorerben vorhanden sein. Damit gilt auch § 2108 Abs. 2 BGB. Stirbt der Nacherbe zwischen Erbfall und Nacherbfall, geht das Anwartschaftsrecht vorbehaltlich einer anderen Auslegung des Testaments auf seine Erben über. Die Diskussion, ob § 2074 BGB anwendbar ist, ist daher überflüssig, weil keine aufschiebend bedingte Nacherbschaft vorliegt. Stirbt der Enkel, der nach dem Tod des Erblassers geboren wird, vor seinem Vater und verstirbt dieser daher ohne Abkömmling, bleibt die Nacherbenanordnung bestehen.
Rz. 21
Nach § 2107 BGB "ist anzunehmen", dass bei Hinzutreten der nächsten Generation die Nacherbschaft als nicht angeordnet gilt. Die Tatsache, dass der Erblasser bei Kenntnis der Geburt des Enkels das Testament nicht ändert, soll nach einer Literaturmeinung als "Indiz" gelten, dass er an der Nacherbeneinsetzung trotz Hinzutretens der nächsten Generation festhalte. Dies widerspricht jedoch dem Wortlaut des § 2107 BGB. Entweder der Nacherbe kann beweisen, dass der Erblasser die Nacherbenanordnung aufrechterhalten wollte, oder er kann es nicht. Die Tatsache, dass ein Testament nicht geändert wird, allein entfaltet keine Indizwirkung. Auf der anderen Seite muss die Motivlage des Erblassers genau analysiert werden. Im vom OLG Nürnberg entschiedenen Fall war das Hauptmotiv die Verhinderung eines Zugriffs der Gläubiger auf das Familienvermögen. Wenn jedoch die Nacherbeneinsetzung mit dem "Auftreten" eines Abkömmlings entfällt, erhält der Vorerbe die Position eines Vollerben mit allen Konsequenzen, also auch dem Verlust des Schutzes des § 2115 BGB zugunsten der Nacherben.