Rz. 1

Den Prozessparteien obliegt die Verpflichtung, zu einer beschleunigten Abwicklung des Rechtsstreits beizutragen, was im Übrigen auch im selbstständigen Beweisverfahren gilt (§ 492 Abs. 1 ZPO).[1] Nach Möglichkeit soll der Rechtsstreit mit nur einem Verhandlungstermin (Haupttermin) einer Entscheidung zugeführt werden, § 272 Abs. 1 ZPO. Dazu bedarf es der Vorbereitung des Termins – sowohl durch das Gericht wie auch durch die Parteien. Sie sollen so rechtzeitig vortragen, dass sich der Gegner zu ihrem Vorbringen erklären kann. Verspätetes Vorbringen darf das Gericht unbeachtet lassen. Es wird in Kauf genommen, dass die materiell-rechtlich richtige Entscheidung deshalb verfehlt werden kann.

BVerfG NJW 2000, 945, 946:

Zitat

[...] Zwar hindert Art. 103 Abs. 1 GG den Gesetzgeber nicht, durch Präklusionsvorschriften auf eine Prozessbeschleunigung hinzuwirken, sofern die betroffene Partei ausreichend Gelegenheit hatte, sich zu allen für sie wichtigen Punkten zur Sache zu äußern, dies aber aus von ihr zu vertretenden Gründen versäumt hat […]. Diese das rechtliche Gehör beschränkenden Vorschriften haben jedoch wegen der einschneidenden Folgen, die sie für die säumige Partei nach sich ziehen, strengen Ausnahmecharakter […]. Die Fachgerichte sind daher bei der Auslegung und Anwendung der Präklusionsvorschriften einer strengeren verfassungsrechtlichen Kontrolle unterworfen, als dies üblicherweise bei der Anwendung einfachen Rechts geschieht. Die verfassungsrechtliche Kontrolle muss über eine bloße Willkürkontrolle hinausgehen […]. Art. 103 Abs. 1 GG ist jedenfalls dann verletzt, wenn die Anwendung der einfachrechtlichen Präklusionsvorschriften durch das Fachgericht offenkundig unrichtig ist […]. Eine Präklusion ist insbesondere dann nicht mit dem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs zu vereinbaren, wenn eine unzulängliche Verfahrensleitung oder eine Verletzung der gerichtlichen Fürsorgepflicht die Verzögerung mitverursacht hat […].

 

Rz. 2

Die Sorge, diesen Anforderungen nicht zu genügen, hat zu einer starken Aufweichung der Regeln für die mit der Vereinfachungsnovelle aus dem Jahre 1977 beabsichtigte Prozessbeschleunigung geführt.

Es gibt so viele Fallstricke, in denen sich der Richter bei der Anwendung der Verspätungsvorschriften verfangen kann, dass viele Instanzrichter diese völlig ignorieren; selbst dann, wenn es sich um zwingendes Recht handelt, z.B. § 296 Abs. 1 ZPO. Eine Rechtfertigung wird daraus abgeleitet, dass die Zulassung von weiterem Vorbringen der Wahrheitsfindung nur förderlich sein könne und ein Richter, der auch verspätetes Vorbringen zulasse, sich lediglich Mehrarbeit aufbürde. Dabei wird außer Acht gelassen, dass der Richter, der nur geringen Einfluss auf die Beibringung des Streitstoffes, die Auswahl und Güte der Beweismittel hat, nie dafür garantieren kann, die wirklich gerechte Entscheidung zu treffen. Lässt er also an sich verspätetes Vorbringen zu, kann das dazu führen, dass er gerade aus diesen Gründen die materiell-rechtlich richtige Entscheidung verfehlt.

Das Verfehlen der richtigen Entscheidung ist keine seltene und deshalb zu vernachlässigende Ausnahme. Die Legitimation, gleichwohl zu entscheiden, ergibt sich aus der peniblen Anwendung der Verfahrensvorschriften, eben auch der Regeln über die Zurückweisung verspäteten Vorbringens.

 

Rz. 3

Richtig ist aber auch, dass ein Gericht sich in der Anwendung der Verspätungsvorschriften Zurückhaltung aufzuerlegen hat.

BVerfG NJW 1998, 2044:

Zitat

Nach Art. 103 Abs. 1 GG haben die Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens ein Recht darauf, sich vor Erlass der Entscheidung zu dem zugrunde liegenden Sachverhalt zu äußern. Daraus folgt die Verpflichtung des Gerichts, Anträge und Ausführungen der Parteien zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. […] Bei der Beurteilung der Frage, ob die Anwendung der Präklusionsvorschriften durch das Gericht den vorstehend genannten verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt, müssen die Grundsätze rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung in die Prüfung einbezogen werden. […]

Die Präklusion ist keine Prozessstrafe für individuelles Fehlverhalten einer Partei, sondern eine drohende Sanktion im Interesse der Prozessbeschleunigung.[2]

BGH NJW 2012, 2808, 2809:

Zitat

Durch die Vorschriften über die Zurückweisung verspäteten Vorbringens soll nicht die prozessuale Nachlässigkeit einer Partei als solche sanktioniert werden, und schon gar nicht soll die Anwendung dieser Vorschriften dem Gericht die Mühe einer der Sache nach gebotenen sorgfältigen Sachverhaltsaufklärung ersparen.

[2] Otto, 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, 2000, S. 182; BGH NJW 2008, 1312; BGH NJW 2012, 2808.

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