Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 4
Zwar hält die Rspr. im Prinzip an dem absoluten Verzögerungsbegriff fest. Danach kann ein verspätetes Vorbringen (etwa bei Fristverletzung) grundsätzlich selbst dann unberücksichtigt bleiben, wenn auch bei rechtzeitigem Vorbringen der Rechtsstreit nicht mit nur einem Verhandlungstermin, einer abschließenden Entscheidung hätte zugeführt werden können. Die Verzögerung soll nicht durch einen Vergleich zwischen der, ohne Berücksichtigung des verspäteten Vorbringens, möglichen Verfahrensdauer und der hypothetischen Verfahrensdauer bei rechtzeitigem Vorbringen zu ermitteln sein; es soll vielmehr allein auf den Vergleich der Verfahrensdauer bei Zurückweisung gegenüber dem Fall der Berücksichtigung ankommen.
BGH NJW 2012, 2808, 2809:
Zitat
Der BGH vertritt deshalb in ständiger Rechtsprechung die Ansicht, dass es für die Feststellung einer Verzögerung des Rechtsstreits allein darauf ankommt, ob der Prozess bei Zulassung des verspäteten Vorbringens länger dauern würde, als bei dessen Zurückweisung. Dagegen ist es grundsätzlich unerheblich, ob der Rechtsstreit bei rechtzeitigem Vorbringen ebenso lange gedauert hätte. Das Gericht ist allerdings verpflichtet, die Verspätung durch zumutbare Vorbereitungsmaßnahmen gem. § 273 ZPO so weit wie möglich auszugleichen und dadurch eine drohende Verzögerung abzuwenden. Die Anwendung dieses so genannten absoluten Verzögerungsbegriffs ist grundsätzlich mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG vereinbar.
Die Rspr. zum absoluten Verzögerungsbegriff ist aber durch das BVerfG für den Fall wesentlich eingeschränkt worden, dass die Verzögerung auch bei rechtzeitigem Vorbringen offenkundig ist.
Das BVerfG ist der Auffassung, dass die Zurückweisung eines Vorbringens als verspätet gegen den Anspruch der Prozessbeteiligten auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verstößt, wenn sich ohne weitere Erwägungen aufdrängt, dass diese Verzögerung auch bei rechtzeitigem Vorbringen eingetreten wäre. Die Präklusionsvorschriften dürfen nicht dazu benutzt werden, verspätetes Vorbringen auszuschließen, wenn ohne jeden Aufwand erkennbar ist, dass die Pflichtwidrigkeit – die Verspätung allein – nicht kausal für eine Verzögerung ist.
Auf dieser Linie liegt auch ein anderer, nicht veröffentlichter Beschluss des BVerfG v. 2.3.1988 – BvR 1170/87:
Zitat
Ein prozessvorbereitend geladener Zeuge war nicht erschienen. Eine Partei, die sich auf diesen Zeugen gar nicht berufen hatte, stellt erstmals in der mündlichen Verhandlung der Berufungsinstanz entscheidungserhebliches, neues Vorbringen in das Wissen dieses Zeugen. Das Oberlandesgericht hält das Vorbringen, wegen dessen es den Zeugen geladen hatte, nicht mehr für entscheidungserheblich; den vom Gegner in der mündlichen Verhandlung angetretenen Beweis durch Vernehmung dieses Zeugen zu anderem entscheidungserheblichen Vorbringen weist es als verspätet zurück. Die Partei habe nicht darauf vertrauen dürfen, dass der bisher nur von der Gegenseite benannte und vom Gericht geladene Zeuge zum Termin erscheine.
Das BVerfG hat diese Entscheidung mit der Begründung aufgehoben, die durch eine Vertagung eintretende Verzögerung beruhe nicht auf dem verspäteten Vorbringen, weil diese Verzögerung auch bei rechtzeitigem Vorbringen (wegen des Nichterscheinens des Zeugen) eingetreten wäre. Es stellt also darauf ab, ob die Verspätung für die Verzögerung kausal sein konnte.
Rz. 5
Der BGH hat die notwendigen Einschränkungen des absoluten Verzögerungsbegriffs in NJW 2012, 2808, 2809 wie folgt zusammengefasst:
Zitat
Die Anwendung dieses so genannten absoluten Verzögerungsbegriffs ist grundsätzlich mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG vereinbar. Die Zulässigkeit einer Präklusion wird verfassungsrechtlich allerdings bedenklich, wenn sich ohne weitere Erwägungen aufdrängt, dass dieselbe Verzögerung auch bei rechtzeitigem Vorbringen eingetreten wäre. Einerseits kann es nicht Sinn der, der Beschleunigung dienenden Präklusionsvorschriften sein, das Gericht mit schwierigen Prognosen über hypothetische Kausalverläufe zu belasten und damit weitere Verzögerungen zu bewirken; diese Vorschriften dürfen aber andererseits auch nicht dazu benutzt werden, verspätetes Vorbringen auszuschließen, wenn ohne jeden Aufwand erkennbar ist, dass die Pflichtwidrigkeit – die Verspätung allein – nicht kausal für eine Verzögerung ist. In diesen Fällen ist die Präklusion rechtsmissbräuchlich, denn sie dient erkennbar nicht dem, mit ihr verfolgten Zweck. Da aber allein dieser Zweck, die Abwehr pflichtwidriger Verfahrensverzögerungen, die Einschränkung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs verfassungsrechtlich rechtfertigt, liegt in einem solchen Rechtsmissbrauch zugleich ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Durch die Vorschriften über die Zurückweisung verspäteten Vorbringens soll nicht die prozessuale Nachlässigkeit einer Partei als solche sanktioniert werden, und schon gar nicht soll die Anwendung dieser Vorschriften dem Gericht die Mühe, einer der Sa...