Rz. 100
Die Rechtsfolgen des Betriebsüberganges werden modifiziert, wenn der Betriebserwerber den Betrieb erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erwirbt. In diesem Fall liegt zwar auch ein Betriebsübergang i.S.d. § 613a BGB vor, das BAG hat die Rechtsfolgen, die sich daraus ergeben, jedoch teleologisch reduziert. Hierdurch möchte das BAG einen gerechten Ausgleich zwischen dem Bestandsschutzinteresses des § 613a BGB und dem insolvenzrechtlichen Grundsatz gleichmäßiger Gläubigerbefriedigung finden (APS/Steffan, BGB, § 613a Rn 235 f.).
Rz. 101
Wesentliche Voraussetzung ist, dass der Betriebsübergang tatsächlich erst nach der Insolvenzeröffnung erfolgt. Es darf nicht der Betriebsübergang nur deshalb herausgezögert werden, um die Reduktion der Rechtsfolgen zu erreichen. Das BAG nimmt daher einen Betriebsübergang in der Ins schon dann an, wenn der Betriebserwerber aufgrund rechtsgeschäftlicher Übereinkunft in die Lage versetzt worden ist, die Leitungsmacht auszuüben (BAG v. 11.2.1992 – 3 AZR 117/91; BAG v. 26.3.1996 – 3 AZR 965/94; Küttner/Kreitner, Betriebsübergang Rn 5). Hier kommt es im Gegensatz zu den normalen Fällen des Betriebsüberganges nicht auf den tatsächlichen Übergang der Leitungsmacht an.
Rz. 102
Praxistipp
Zur Vermeidung von Zweifeln über die Möglichkeit der Betriebsleitung ist es im Fall einer Insolvenz empfehlenswert, einen Kaufvertrag über den Betrieb(-steil) erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens abzuschließen.
Rz. 103
Diese Modifikationen betreffen in erster Linie die Haftung des Betriebserwerbers. Die insolvenzrechtlichen Haftungsgrundsätze sollen erhalten bleiben; die übergehenden Arbeitnehmer sollen nicht ggü. den verbleibenden Arbeitnehmern oder den Gläubigern des Unternehmens bevorzugt werden (BAG v. 15.1.2002 – 1 AZR 58/01; BAG v. 19.10.2004 – 9 AZR 645/03). Daher haftet der Unternehmer nicht für Insolvenzforderungen, also solche Forderungen, die vor Insolvenzeröffnung entstanden sind. Etwas anderes nimmt das BAG hingegen für Masseverbindlichkeiten an, für diese haftet der Betriebserwerber (BAG v. 18.11.2003 – 9 AZR 95/03; BAG v. 19.10.2004 – 9 AZR 645/03; vgl. auch ErfK/Preis, § 613a BGB Rn 146 ff.).
Rz. 104
Dieses eingeschränkte Haftungssystem hat für den Arbeitnehmer unter Umständen erhebliche Auswirkungen. Insb. haftet der Erwerber i.R.d. betrieblichen Altersvorsorge nur für die Ansprüche, die ihm entstanden sind (BAG v. 19.5.2005 – 3 AZR 649/03). Ebenso haftet der Erwerber bei Altersteilzeit nur für das Wertguthaben, das der Arbeitnehmer bei ihm verdient hat (BAG v. 19.10.2004 – 9 AZR 647/03; a.A. LAG Frankfurt am Main v. 23.8.2006 – 8 Sa 1744/05 mit Berufung auf Europarechtswidrigkeit der teleologischen Reduktion). Befindet sich daher der Arbeitnehmer schon in der Freistellungsphase, hat er keinen Anspruch gegen den Betriebserwerber (BAG v. 19.10.2004 – 9 AZR 645/03; näher zu den verschiedenen Modellen Altersteilzeit siehe Depré/Heck, Praxis der Insolvenz, § 27 Individualarbeitsrecht, Rn 31 ff.). Dagegen entsteht ein Anspruch auf Urlaub bzw. Gratifikationen, die nicht von tatsächlich geleisteter Arbeit abhängen, erst beim Erwerber und somit in voller Höhe (BAG v. 18.11.2003 – 9 AZR 95/03; Lembke, BB 2007, 1333, 1335). Fraglich ist, ob eine Haftung des Betriebserwerbers für Sozialplanansprüche entsteht, wenn das Arbeitsverhältnis zwar schon gekündigt wurde, aber erst nach Betriebsübergang beendet wird. Bei Sozialplanansprüchen handelt es sich gem. § 123 Abs. 2 S. 1 InsO um Masseverbindlichkeiten. In Bezug auf das früher geltende Sozialplankonkursgesetz hat das BAG eine Haftung des Betriebserwerbers abgelehnt (BAG v. 15.1.2002 – 1 AZR 58/01).
Rz. 105
Daneben ist auch das Recht des Arbeitnehmers auf Wiedereinstellung beim Betriebserwerber beschränkt. Das Kündigungsverbot des § 613a Abs. 4 S. 1 BGB gilt auch in der Ins uneingeschränkt (BAG v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05). Der Arbeitnehmer hat nach Ablauf der Kündigungsfrist keinen Anspruch mehr auf Wiedereinstellung bei Betriebsübernahme, sofern der Betriebserwerber nicht aus rechtsmissbräuchlichen Gründen den Betriebsübergang hinausgezögert hat (Lembke, BB 2007, 1333, 1337). Weiterhin darf der Insolvenzverwalter das Erwerberkonzept uneingeschränkt als Anlass zu betriebsbedingten Kündigungen nehmen. Schließt der Insolvenzverwalter einen Interessenausgleich mit Namensliste, so erstreckt sich die Vermutung, dass für die Kündigung ein dringendes betriebliches Erfordernis gegeben ist (§ 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 InsO), auch darauf, dass die Kündigung nicht wegen des Betriebsüberganges erfolgte, § 128 Abs. 2 InsO (BAG v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05; LAG Hamm v. 4.6.2002 – 4 Sa 81/02).