Joachim Vetter, Dr. iur. Martin Nebeling
Rz. 1487
Die wichtigsten Einschränkungen der Zuständigkeit des Betriebsrates zum Abschluss von Betriebsvereinbarungen folgen aus dem Schutz der Tarifautonomie. Insb. zu Fragen der Arbeitsentgelte und sonstigen Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, sind Betriebsvereinbarungen nur bei ausdrücklicher Ermächtigung durch die tarifschließenden Parteien – sog. Öffnungsklausel – wirksam (§ 77 Abs. 3 BetrVG). Die Ermächtigung kann auch nachträglich erteilt, eine Betriebsvereinbarung oder ihre Änderung nachträglich genehmigt werden (BAG v. 15.12.2020 – 1 AZR 499/18, juris). Die Sperrwirkung eines Flächenverbandstarifvertrags kann auch durch eine in einem unternehmensbezogenen Verbandstarifvertrag enthaltene Öffnungsklausel aufgehoben werden, nicht aber durch eine in einem Firmentarifvertrag enthaltene Öffnungsklausel (BAG v. 13.8.2019 – 1 AZR 213/18, juris). Wird gegen § 77 Abs. 3 BetrVG verstoßen, dann sind die getroffenen Regelungen nichtig. Dem Betriebsrat droht wegen groben Verstoßes gegen seine Pflichten die Auflösung bzw. die Amtsenthebung seiner handelnden Mitglieder gem. § 23 Abs. 1 BetrVG (vgl. ArbG Marburg v. 7.8.1996 – 1 BV 6/96, NZA 1996, 1331 ff.). Dies gilt auch dann, wenn eine Betriebsvereinbarung einen geltenden Tarifvertrag inhaltlich übernimmt (vgl. Richardi, § 77 Rn 298 ff.).
Rz. 1488
Hinweis
Nicht ausgeschlossen ist nach der Rspr. allerdings, dass unwirksame Betriebsvereinbarungen – unabhängig vom Unwirksamkeitsgrund, etwa auch bei nicht ausreichender Beschlussfassung des Betriebsrats, seiner Unzuständigkeit nach § 50 Abs. 1 oder § 58 Abs. 1 BetrVG, wegen des Tarifvorrangs oder Gesetzesverstoßes – entsprechend § 140 BGB in eine vertragliche Einheitsregelung – Gesamtzusage oder gebündelte Vertragsangebote – umgedeutet werden können. Dies kommt allerdings nur in Betracht, wenn besondere Umstände die Annahme rechtfertigen, der Arbeitgeber habe sich unabhängig von der Betriebsvereinbarung in jedem Fall verpflichten wollen, seinen Arbeitnehmern die in der Betriebsvereinbarung vorgesehenen Leistungen zu gewähren (BAG v. 26.1.2017 – 2 AZR 405/16, juris; BAG v. 30.5.2006 – 1 AZR 111/05, juris). Es muss ein entsprechender hypothetischer Verpflichtungswille des Arbeitgebers festgestellt werden, sich auf Dauer einzelvertraglich zu binden (von den in einer Betriebsvereinbarung festgelegten Pflichten könnte er sich durch Kündigung lösen); eine Umdeutung wird nur in Ausnahmefällen anzunehmen sein (BAG v. 23.2.2016 – 3 AZR 960/13, juris; BAG v. 2.12.2021 – 3 AZR 123/21, juris). Der hypothetische Wille des Arbeitgebers kann nicht aus den in der – unwirksamen – Betriebsvereinbarung selbst getroffenen Regelungen abgeleitet werden; er muss sich aus außerhalb der Betriebsvereinbarung liegenden Umständen ergeben und auf einen von der Betriebsvereinbarung losgelösten Verpflichtungswillen gegenüber den Arbeitnehmern gerichtet sein (BAG v. 9.11.2021 – 1 AZR 206/20, juris). Ob es sich hierbei wirklich um eine "Umdeutung" im Rechtssinn handelt, erscheint als zweifelhaft. In den entschiedenen Sachverhalten hatte der Arbeitgeber zusätzlich zur Unterzeichnung der Betriebsvereinbarung Erklärungen abgegeben, die für sich genommen als Gesamtzusagen gewertet werden konnten.
Rz. 1489
Zu beachten ist allerdings, dass dieser durch Umdeutung entstandenen Gesamtzusage jedenfalls über Leistungen der betrieblichen Altersversorgung keine gegenüber Betriebsvereinbarungen erschwerte Abänderungsmöglichkeit erwächst; die Abänderungsmöglichkeiten entsprechen sich. Wenn der Arbeitgeber Leistungen der betrieblichen Altersversorgung im Wege der Gesamtzusage verspricht, will er diese nach einheitlichen Regeln, d.h. als System, erbringen. Da die Regelungen auf einen längeren unbestimmten Zeitraum angelegt sind, sind diese von vornherein auch für die Begünstigten erkennbar einem möglichen künftigen Änderungsbedarf ausgesetzt. Der Arbeitgeber sagt auch mit einer Gesamtzusage im Regelfall nur eine Versorgung nach den jeweils geltenden Versorgungsregeln zu. Ihm steht daher auch ohne Änderungskündigung eine Neuregelung offen. Änderungen unterliegen der Rechtskontrolle. Die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit dürfen nicht verletzt sein (so jetzt weiterführend BAG v. 23.2.2016 – 3 AZR 960/13, juris, für eine deswegen unwirksame "Betriebsvereinbarung", weil sie mit einem nicht vom BetrVG vorgesehenen Gremium ausgehandelt war, mit Anm. Worzalla, AP Nr. 12 zu § 1 BetrAVG Betriebsvereinbarung: Schmitt-Rolfes, AuA 2016, 455; Müller-Mundt, ArbRB 2016, 173).