Joachim Vetter, Dr. iur. Martin Nebeling
Rz. 1336
§ 113 Abs. 3 BetrVG sieht vor, dass der Arbeitgeber als Sanktion für einen unterlassenen oder verspäteten Interessenausgleich den Arbeitnehmern, die entlassen werden oder andere wirtschaftliche Nachteile erleiden, individualrechtlich einen Nachteilsausgleich schuldet. Der Arbeitgeber hat den Betriebsrat nach § 111 Abs. 1 BetrVG von der geplanten Betriebsänderung zu unterrichten und vor deren Durchführung einen Interessenausgleich, ggf. unter Anrufung der Einigungsstelle zu versuchen. Wird er erst im Zuge der Durchführung tätig oder unterbleibt jeder Versuch des Interessenausgleiches, löst das die Sanktion des § 113 Abs. 3 BetrVG aus. Die Untätigkeit des Betriebsrates befreit den Arbeitgeber nicht von seiner Pflicht, den Interessenausgleich ausreichend zu versuchen (LAG Berlin v. 8.9.1987 – 8 Sa 48/87, LAGE § 112a BetrVG 1972 Nr. 2 = NZA 1988, 327).
Rz. 1337
Ein Unternehmer, der einen Personalabbau ins Auge fasst, der den Umfang des § 17 Abs. 1 KSchG nur möglicherweise erreichen soll, der aber schrittweise vorgehen will, um die weitere wirtschaftliche Entwicklung erst noch abzuwarten und auf sie jeweils reagieren zu können, fasst keinen einheitlichen Gesamtplan, der die Zusammenfassung mehrerer Kündigungswellen zu einer einheitlichen Maßnahme rechtfertigen würde, wenn die jeweiligen Entscheidungen zur Fortsetzung des Personalabbaus erst noch zu treffen sind. Die bloße Tatsache, dass die einzelnen Entscheidungen damit letztlich auf ein und dieselbe wirtschaftliche Entwicklung zurückgehen, macht diese noch nicht zu einer einheitlichen Maßnahme. Der Arbeitnehmer, der einen Nachteilsausgleich gem. § 113 Abs. 3 BetrVG fordert, ist für einen Gesamtplan des Unternehmers im vorgenannten Sinne darlegungs- und beweispflichtig. Die zeitliche Nähe mehrerer Kündigungswellen kann dafür ein Indiz sein, das aber durch gegenläufige Indizien entkräftet werden kann (BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 5/05, NZA 2006, 932 = DB 2006, 1792 = BB 2006, 2084).
Rz. 1338
Hinweis
Auch ein vorläufiger Insolvenzverwalter, auf den die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Schuldners übergegangen ist oder der nach dem Inhalt des Bestellungsbeschlusses kündigungsbefugt ist, hat das Interessenausgleichsverfahren durchzuführen (Uhlenbruck/Berscheid, §§ 121, 122 InsO Rn 121). Ansprüche auf Nachteilsausgleich nach § 113 Abs. 3 BetrVG sind ferner gegeben, wenn der endgültige Insolvenzverwalter eine Betriebsänderung durchführt, ohne darüber einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versucht zu haben (BAG v. 30.5.2006 – 1 AZR 25/05, NZA 2006, 1122 = DB 2006, 1851 = BB 2006, 1745), selbst wenn der Betriebsrat anlässlich der geplanten Betriebsänderung nach § 112a Abs. 2 BetrVG einen Sozialplan nicht erzwingen kann (BAG v. 8.11.1988, NZA 1989, 279 = DB 1989, 331 = BB 1989, 773). Die Beteiligungsrechte bestehen auch dann, wenn der Betriebsrat erst nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens, aber vor Beginn der Betriebsänderung gewählt worden ist (BAG v. 18.11.2003 – 1 AZR 30/03, NZA 2004, 161 = DB 2004, 2820 = BB 2004, 556).
Rz. 1339
Die Höhe der Abfindung bemisst sich auch hier über die Verweisung in § 113 Abs. 3 S. 1 BetrVG, § 113 Abs. 1 Hs. 2 BetrVG nach § 10 KSchG. Bei der Festsetzung des Nachteilsausgleiches ist das Gericht nicht an die für den Sozialplan geltende Begrenzung des § 112 Abs. 5 S. 2 Nr. 2 BetrVG gebunden (BAG v. 10.12.1996 – 1 AZR 290/96, NZA 1997, 787 = BB 1997, 1899). Der Umstand, dass der Nachteilsausgleichsanspruch in einem Insolvenzverfahren entstanden ist, soll sich auf die Höhe der festzusetzenden Abfindung niederschlagen, weil auch die Interessen der anderen Gläubiger berücksichtigt werden müssten; der sich nach der Faustregel ergebende Abfindungsbetrag soll zu halbieren sein, sodass pro Beschäftigungsjahr somit nur 1/4 eines Bruttomonatsverdienstes in Ansatz zu bringen sei (LAG Hamm v. 13.1.1993, AiB 1993, 735 = AuR 1993, 306). Dies mag vor dem Inkraftsetzen der arbeitsrechtlichen Vorschriften der InsO sachgerecht gewesen sein. Da der Insolvenzverwalter nach § 122 Abs. 1 S. 1 InsO nur noch drei Wochen mit dem Betriebsrat die geplante Betriebsänderung zu beraten und zu verhandeln braucht, ehe er die arbeitsgerichtliche Zustimmung zur vorzeitigen Durchführung der Betriebsänderung einholen kann, erscheinen Überlegungen, die zu einer Minderung der Abfindung führen, nicht mehr angezeigt (Berscheid, ZInsO 1999, 27, 28; Uhlenbruck/Berscheid, §§ 121, 122 InsO Rn 122).
Rz. 1340
Eine Konkurrenz zwischen Ansprüchen aus dem Sozialplan und Ansprüchen auf Nachteilsausgleich kann entstehen, wenn der Unternehmer die Betriebsänderung ohne den Versuch eines Interessenausgleiches durchgeführt hat und der Betriebsrat nachträglich die Aufstellung des Sozialplanes durchsetzt. Trotz der unterschiedlichen Zielsetzungen von Sozialplan und Nachteilsausgleich hat die Rspr. (vgl. etwa BAG v. 16.5.2007 – 8 AZR 693/06, NZA 2007, 1296 = BB 2008, 53) bisher eine automatische Anrechnung des Nachteilsausgleiches auf die Sozialplanleistunge...