Joachim Vetter, Dr. iur. Martin Nebeling
Rz. 1495
Ausgenommen von der Sperre des Tarifvertrages sind kraft Gesetzes Sozialpläne nach §§ 112, 112a BetrVG (vgl. § 112 Abs. 1 S. 4 BetrVG).
Rz. 1496
Heftig umstritten war früher, ob auch der in § 87 Abs. 1 BetrVG enthaltene Tarifvorrang eine den § 77 Abs. 3 BetrVG verdrängende Regelung enthält. Nach der vom BAG in nunmehr st. Rspr. vertretenen Vorrangtheorie geht der Tarifvorbehalt des § 87 BetrVG in seinem Geltungsbereich – also immer dann, wenn es um Mitbestimmungstatbestände aus dem Katalog des § 87 BetrVG geht – dem § 77 Abs. 3 BetrVG als speziellere Norm vor (grundlegend BAG [Großer Senat] v. 3.12.1991 – GS 2/90, juris; ebenso BAG v. 22.6.1993 – 1 ABR 62/92, juris: Verstoß gegen § 77 Abs. 3 BetrVG, soweit die Betriebsvereinbarung zugleich Regelungen über die Dauer der wöchentlichen bzw. jährlichen Arbeitszeit enthält).
Rz. 1497
Hinweis
Die Anwendung der Vorrangtheorie führt zu einer Ausweitung der Mitbestimmungsmöglichkeiten durch Betriebsvereinbarung, weil die Schranke des § 87 Abs. 1 BetrVG Eingangssatz viel kleiner ist als diejenige des § 77 Abs. 3 BetrVG: Die auch durch Betriebsvereinbarung mögliche Ausübung der Mitbestimmung ist im Bereich des § 87 BetrVG nur eingeschränkt, wenn der Tarifvertrag im Betrieb konkret zur Anwendung kommen kann, weil der Arbeitgeber tarifgebunden ist (auf die Tarifgebundenheit des Arbeitnehmers kommt es dabei nicht an). Die Schranke greift nur weiter, "soweit" eine tarifliche Regelung besteht; sie entzieht also nicht den gesamten Gegenstand der Mitbestimmung, sondern gestattet Mitbestimmung, soweit der Tarifvertrag die Angelegenheit nicht selbst abschließend regelt. Dagegen steht die Schranke des § 77 Abs. 3 BetrVG jeglicher Regelung durch Betriebsvereinbarung entgegen, und zwar selbst dann, wenn der Tarifvertrag mangels Tarifbindung des Arbeitgebers gar nicht zur Anwendung kommt (BAG v. 13.3.2012 – 1 AZR 659/10, juris; BAG v. 26.1.2017 – 2 AZR 405/16, juris; LAG Berlin-Brandenburg v. 20.7.2017 – 26 Sa 1932/16, juris, für Vergütungserhöhung durch Betriebsvereinbarung; LAG Hamburg v. 26.4.2017 – 5 Sa 53/16, juris; LAG Berlin-Brandenburg v. 20.4.2017 – 14 Sa 1991/16, juris; LAG Hamburg v. 9.2.2017 – 8 Sa 57/16, juris, jeweils mit einer Regelung, dass zukünftige Tariferhöhungen zu einer entsprechenden Erhöhung des Garantiegehalts führen sollen).
Rz. 1498
Beispiel
Regeln die Betriebsparteien eines Betriebes der Metallindustrie in Bayern durch Betriebsvereinbarung, dass die Arbeitnehmer bei konkret vereinbarten Überstunden Anspruch auf 50 % Zuschlag haben, muss der Arbeitgeber diese 50 % nicht zahlen. Die Betriebsvereinbarung ist unwirksam, weil im Tarifvertrag ein Zuschlag von 25 % festgelegt ist. Ist der Arbeitgeber nicht Mitglied im Arbeitgeberverband der bayerischen Metall- und Elektroindustrie, dann muss er mangels Geltung des Tarifvertrages auch die 25 % Überstundenzuschlag nicht zahlen. Soweit im Arbeitsvertrag nichts geregelt ist, schuldet er keine Überstundenzuschläge – auch nicht die 50 % aus der Betriebsvereinbarung. Diese ist und bleibt wegen des Verstoßes gegen den Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG auch in diesem Fall unwirksam. § 77 Abs. 3 BetrVG sperrt allerdings nicht Vertragsregelungen. Hätte der Betriebsrat die Zustimmung zu den Überstunden erst erteilt, nachdem der Arbeitgeber den Arbeitnehmern (und nicht dem Betriebsrat) eine Gesamtzusage erteilt hätte, dass für diese Stunden ein Zuschlag von 50 % versprochen würde, wäre – vorausgesetzt, der Betriebsrat hätte dies nicht zur missbräuchlichen Bedingung gemacht (Koppelungsverbot) – der Anspruch der Arbeitnehmer auf die Zahlung von 50 % gegeben, und zwar unabhängig von der Tarifgeltung.
Rz. 1499
Die von der Gegenansicht früher vertretene Zwei-Schranken-Theorie hingegen lässt den Tarifvorrang des § 77 Abs. 3 BetrVG auch im Bereich des § 87 BetrVG gelten (LAG Schleswig-Holstein v. 20.8.1987 – 4 Sa 37/87, juris). Zur Ausgestaltung des Mitbestimmungsrechtes aus § 87 BetrVG stünde dem Betriebsrat nach dieser Ansicht also nur die Regelungsabrede zur Verfügung (Fitting, § 77 BetrVG Rn 102).
Rz. 1500
Nach neuerer Rspr. Des BAG soll die Schranke des § 77 Abs. 3 BetrVG nur Betriebsvereinbarungen sperren, nicht aber Regelungsabreden (Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat ohne normative Wirkung, also ohne Einfluss auf die zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bestehenden Individualbeziehungen; Einzelheiten Rdn 1560 ff.; BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, juris; BAG v. 25.9.2002 – 10 AZR 554/01, juris; umfassend auch BAG v. 21.1.2003 – 1 ABR 9/02, juris; anders noch BAG v. 24.2.1987 – 1 ABR 18/85, juris). Die Bedeutung dieser Streitfrage ist nicht recht erkennbar, weil die Regelungsabreden ohnehin keine Wirkungen im Rechtsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer entfalten und eine "Regelung" solcher Angelegenheiten durch die Regelungsabrede gerade nicht vorliegt.