Joachim Vetter, Dr. iur. Martin Nebeling
Rz. 40
Betriebsteile sind i.S.d. § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BetrVG dann vom Hauptbetrieb räumlich weit entfernt, wenn wegen dieser Entfernung eine ordnungsgemäße Betreuung der Belegschaft des Betriebsteiles durch einen beim Hauptbetrieb ansässigen Betriebsrat nicht mehr gewährleistet ist (BAG v. 17.5.2017 – 7 ABR 21/15, juris: 11 km entfernte Produktionsstätte, allerdings mussten die Arbeitnehmer im konkreten Fall jeweils spätestens 30 Minuten nach einem Störfall einsetzbar sein und hatten deswegen keine realistische Möglichkeit, den Betriebsrat im Hauptbetrieb aufzusuchen; BAG v. 7.5.2008 – 7 ABR 15/07, juris). Der Zweck der Regelung des § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BetrVG besteht darin, den Arbeitnehmern von Betriebsteilen eine effektive Vertretung durch einen eigenen Betriebsrat zu ermöglichen, wenn wegen der räumlichen Trennung des Hauptbetriebes von dem Betriebsteil die persönliche Kontaktaufnahme zwischen einem dortigen Betriebsrat und den Arbeitnehmern im Betriebsteil so erschwert ist, dass der Betriebsrat des Hauptbetriebes die Interessen der Arbeitnehmer nicht mit der nötigen Intensität und Sachkunde wahrnehmen kann und sich die Arbeitnehmer nur unter erschwerten Bedingungen an den Betriebsrat wenden können oder dass Betriebsratsmitglieder, die in dem Betriebsteil beschäftigt sind, nicht kurzfristig zu Sitzungen im Hauptbetrieb kommen können. Maßgeblich ist also sowohl die leichte Erreichbarkeit des Betriebsrates aus Sicht der Arbeitnehmer als auch umgekehrt die Erreichbarkeit der Arbeitnehmer für den Betriebsrat.
Rz. 41
Eine Bestimmung allein nach Entfernungskilometern kommt nicht in Betracht. Es ist vielmehr eine Gesamtwürdigung aller Umstände vorzunehmen. In die vorzunehmende Betrachtung kann auch das Vorhandensein einer Betriebsgemeinschaft einfließen. Dieser Gesichtspunkt kann jedoch allenfalls als Orientierungshilfe dienen (BAG v. 23.9.1982 – 6 ABR 42/81, juris). Auf die Verfügbarkeit moderner Kommunikationsmittel kommt es nicht an (LAG Baden-Württemberg v. 22.10.2020 – 17 TaBV 3/19, juris). Dabei kann auch eine Rolle spielen, ob und in welcher Zahl den in den Filialen beschäftigten Arbeitnehmern nicht dauerhaft ein Pkw zur Verfügung steht, um bei Bedarf kurzfristig den Betriebsrat des Hauptbetriebes aufsuchen zu können, sodass es auf die Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln ankommt (LAG Schleswig-Holstein v. 20.1.2010 – 6 TaBV 39/09, juris). Allerdings darf nicht mit der Begründung, jeder Arbeitnehmer muss jederzeit den Betriebsrat aufsuchen können, für die Wegezeiten der jeweils ungünstigste Fall zugrunde gelegt werden; lässt es die Angelegenheit zu, kann der Arbeitnehmer nämlich Mitfahrgelegenheiten nutzen und die Reisezeiten verkürzen. Auch ist nicht auf die ungünstigste Verkehrssituation, sondern auf die regelmäßigen Verkehrsverhältnisse abzustellen (BAG v. 17.5.2017 – 7 ABR 21/15, juris: bei 50 Minuten Wegezeit kann entscheidend sein, dass ein erheblicher Teil der Mitarbeiter die Arbeit für höchstens 30 Minuten unterbrechen darf, weil es sich um einen Störfallbetrieb handelt). Aus diesem Grund ist bei einem Zeitaufwand von knapp 60 Minuten mit öffentlichen Verkehrsmitteln davon auszugehen, dass die Filiale räumlich weit entfernt ist (BAG v. 7.5.2008 – 7 ABR 15/07, juris). In der Rspr. finden sich viele Einzelfallentscheidungen (vgl. etwa bei GK/Franzen, § 4 Rn 13 f.; bei DKW/Trümner, § 4 Rn 54 ff.; bei Richardi/Maschmann, § 4 Rn 19 ff.). Man wird heute bei einer Wegezeit bis zu 20 Minuten von fehlender weiter Entfernung ausgehen, bei einer Wegezeit über 45 Minuten ohne Vorliegen besonderer Umstände von "räumlich weit"; für die dazwischen liegende Grauzone werden die Entscheidungen der Wahlvorstände weitgehend von den Gerichten anerkannt.
Rz. 42
Beispiel
Im Beschl. v. 14.1.2004 (7 ABR 26/03, juris) hat das BAG die Bewertung des LAG, die Erreichbarkeit zwischen beiden Betriebsstätten mit dem Auto (je nach Strecke zwischen 23,2 und 24,1 km entfernt, ca. 15 – 20 Min.) sei gut, trotz hohen Zeitaufwands mit öffentlichen Verkehrsmitteln (einfache Fahrt 71 – 84 Min.), anerkannt. Es hat auch die Überlegung anerkannt, dass die Mitarbeiter des Betriebsteiles bis auf wenige Ausnahmen Kranführer und Berufskraftfahrer waren, die sich in der ganz überwiegenden Zeit für die Benutzung des Pkw zur Fahrt zur Arbeit entschieden hatten, und dass es eine tägliche Mitfahrgelegenheit beim Werkstattmeister gab, sodass auf die Erreichbarkeit mit dem Pkw abzustellen sei. Die gesonderte Betriebsratswahl im Betriebsteil wurde daher für unwirksam erklärt.