Joachim Vetter, Dr. iur. Martin Nebeling
Rz. 1325
Plant ein Unternehmer eine Betriebsänderung i.S.d. § 111 S. 3 BetrVG, hat er ein abgestuftes System von Beteiligungsrechten bis zur Mitbestimmung zu beachten. Die Vorschrift des § 111 S. 1 BetrVG gibt dem Betriebsrat zunächst ein Informations- und Beratungsrecht. In der Entscheidung darüber, ob er die Betriebsänderung tatsächlich durchführt, ist der Unternehmer frei. Er muss jedoch versuchen, mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich über das Ob, Wann und die Modalitäten der Betriebsänderung zu finden. Der Arbeitgeber ist im eigenen Interesse gehalten, alle Verständigungsmöglichkeiten bis hin zum letzten Vermittlungsversuch durch die Einigungsstelle auszuschöpfen (§ 112 Abs. 2 BetrVG). Hält der Arbeitgeber das ihm aufgegebene Verfahren, das notwendigerweise zeitliche Verzögerungen mit sich bringt, ein, kann er seine Planung verwirklichen, ohne dass ihn die Beteiligungsrechte des Betriebsrats aus den §§ 111, 112 BetrVG blockieren können.
Rz. 1326
Hält der Arbeitgeber das ihm aufgegebene Verfahren nicht ein, sieht das Gesetz in zwei Fällen vor, dass der Arbeitgeber als Sanktion für die Verletzung von Beteiligungspflichten im Zusammenhang mit Betriebsänderungen ggü. den betroffenen Arbeitnehmern individualrechtlich nachteilsausgleichpflichtig wird und auf entsprechende Klage des einzelnen betroffenen Arbeitnehmers hin Abfindungen zu zahlen hat:
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Der Unternehmer weicht ohne zwingenden Grund von einem mit dem Betriebsrat vereinbarten Interessenausgleich ab (§ 113 Abs. 1 BetrVG). |
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Der Unternehmer führt eine geplante Betriebsänderung durch, ohne vorher informiert und die Verhandlungen über einen Interessenausgleich aufgenommen oder seine Verpflichtung zu Verhandlungen mit dem Betriebsrat zeitlich ausgeschöpft zu haben (§ 113 Abs. 3 BetrVG). |
Rz. 1327
Die vorgenannten Sanktionen treten auch dann ein, wenn der Arbeitgeber mit dem falschen Betriebsverfassungsorgan einen Interessenausgleich verhandelt (und abschließt). War z.B. der Gesamtbetriebsrat zuständig und hat der Arbeitgeber in einem solchen Fall die mitbestimmungspflichtige Betriebsänderung durchgeführt, nachdem er entweder mit den Einzelbetriebsräten verhandelt hat oder ohne einen Interessenausgleich mit dem Gesamtbetriebsrat versucht zu haben, ist er gem. § 113 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 BetrVG verpflichtet, den Arbeitnehmern, die infolge der Betriebsänderung entlassen worden sind, eine Abfindung in entsprechender Anwendung von § 10 KSchG zu zahlen (LAG Düsseldorf v. 9.3.2017 – 5 Sa 781/16; BAG v. 8.6.1999 – 1 AZR 831/98, NZA 1999, 1168 = BB 1999, 2244). § 113 Abs. 3 BetrVG dient der Sanktion der unterlassenen Beteiligung des Betriebsrats; ausreichend ist der objektive Verstoß des Arbeitgebers.
Rz. 1328
Hinweis
Das Abweichen von einem Sozialplan löst keine Sanktion i.S.d. § 113 BetrVG aus. Die betroffenen Arbeitnehmer können auf die Erfüllung ihrer Ansprüche bestehen und diese ggf. im arbeitsgerichtlichen Urteilsverfahren einklagen. Die Vorschriften des § 113 Abs. 1 und 2 BetrVG über die Zahlung eines Nachteilsausgleiches finden auf andere Sachverhalte des Abweichens von einem Interessenausgleich keine analoge Anwendung (LAG Berlin v. 29.1.1996, NZA-RR 1996, 415).
aa) Abweichung von einem Interessenausgleich
Rz. 1329
Vereinbaren Arbeitgeber und Betriebsrat vor Durchführung einer Maßnahme, die sich als Betriebsänderung darstellt, schriftlich, in welcher Weise die wirtschaftlichen Nachteile der von dieser Maßnahme betroffenen Arbeitnehmer ausgeglichen oder gemildert werden sollen, so kann darin auch die Einigung der Betriebspartner darüber liegen, dass die Maßnahme wie geplant durchgeführt werden soll. Die Betroffenen haben in diesem Fall keinen Anspruch auf Nachteilsausgleich, weil es nicht an dem Versuch eines Interessenausgleiches fehlt (BAG v. 20.4.1994 – 10 AZR 186/93, NZA 1995, 89 = DB 1994, 2038 = BB 1994, 1936).
Rz. 1330
Der Arbeitgeber muss einen erzielten Interessenausgleich einhalten. Er darf nur aus zwingenden Gründen davon abweichen, wenn er nicht nach § 113 Abs. 1 BetrVG nachteilsausgleichspflichtig werden will. "Zwingende Gründe", die ein Abweichen rechtfertigen, sind regelmäßig nur "neue" Gesichtspunkte, die beim Abschluss des Interessenausgleiches nicht oder nicht genügend berücksichtigt werden konnten, da sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorlagen oder nicht erkennbar waren. Es muss sich mithin um Gründe handeln, die erst nachträglich entstanden oder bekannt geworden sind. Sie müssen so gravierend sein, dass sie keine andere Wahl lassen. Bei Einhaltung des vereinbarten Interessenausgleiches müsste der Bestand des Unternehmens gefährdet werden (BAG v. 3.10.1989 – 1 AZR 606/88; Fitting, § 113 BetrVG Rn 7 ff.; Uhlenbruck/Berscheid, §§ 121, 122 InsO Rn 115). Der Arbeitgeber ist für das Vorliegen zwingender Gründe darlegungs- und beweispflichtig. Die Abweichung ist von der Planung einer völlig neuen Betriebsänderung zu unterscheiden (LAG Hamm v. 26.8.2004 – 4 Sa 1853/03).
Rz. 1331
Beispiel
Plötzlich auftretender Rohstoffmangel, Kreditschwierigkeiten, gesetzgeberische Maßnahmen, Absatzkr...