Joachim Vetter, Dr. iur. Martin Nebeling
1. Rechtsnatur
Rz. 1472
Die Betriebsvereinbarung findet ihre gesetzliche Regelung in § 77 BetrVG. Sie hat nach § 44 Abs. 4 BetrVG normative Wirkung gegenüber Arbeitgeber und Arbeitnehmer, gestaltet bzw. überlagert automatisch – ohne dass es einer weiteren Umsetzung, etwa durch Direktionsrecht, bedarf – die im Arbeitsverhältnis bestehenden Arbeitsbedingungen und stellt die wichtigste Form der Einigung zwischen den Betriebspartnern dar. Soweit sie Rechte und Pflichten der Betriebspartner zueinander regelt, entfaltet sie schuldrechtliche Wirkungen.
Rz. 1473
Die Rechtsnatur der Betriebsvereinbarung ist umstritten. Nach der überwiegend vertretenen Vertragstheorie ist sie ein privatrechtlicher kollektiver Normenvertrag, der zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat abgeschlossen wird und kraft staatlicher Ermächtigung die betrieblichen Arbeitsverhältnisse unmittelbar und zwingend gestaltet (GK/Kreutz, § 77 Rn 40 ff.; Fitting, § 77 BetrVG Rn 13 f.). Nach der Gegenansicht stellt die Betriebsvereinbarung eine autonome Satzung dar, die einen schuldrechtlichen Inhalt hat ("Satzungstheorie", vgl. Herschel, RdA 1948, 47). Die praktischen Auswirkungen dieses Meinungsstreites sind jedoch gering.
Rz. 1474
Wegen ihres Charakters als Normen sind Betriebsvereinbarungen nach den für Tarifverträge und Gesetze geltenden Grundsätzen auszulegen. Dabei ist vom Wortlaut der Bestimmung und dem durch ihn vermittelten Wortsinn auszugehen. Insbesondere bei unbestimmtem Wortsinn sind der wirkliche Wille der Betriebsparteien und der von ihnen beabsichtigte Zweck zu berücksichtigen, soweit sie im Text ihren Niederschlag gefunden haben. Abzustellen ist ferner auf den Gesamtzusammenhang der Regelungen, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Betriebsparteien geben kann. Soweit kein eindeutiges Auslegungsergebnis möglich ist, kommen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Auslegungskriterien, wie etwa eine regelmäßige Anwendungspraxis oder die Normengeschichte, in Betracht. Im Zweifel gebührt derjenigen Auslegung der Vorzug, die zu einem sachgerechten, zweckorientierten, praktisch brauchbaren und gesetzeskonformen Verständnis der Bestimmung führt. Bedeutsam für die Auslegung sind die Verhältnisse bei ihrem Abschluss und das Verständnis der Betriebsparteien, das sich aus dem Kontext der Regelungen ergibt. Ebenso kann – wenn im Einzelfall noch Zweifel verbleiben – auf die Entstehungsgeschichte der Betriebsvereinbarung zurückgegriffen werden (BAG v. 8.3.2022 – 3 AZR 420/21, juris; BAG v. 25.1.2022 – 3 ABR 345/21, juris; instruktiv auch BAG v. 13.10.2021 – 10 AZR 729/19, juris).
2. Zustandekommen
Rz. 1475
Die Betriebsvereinbarung kommt durch übereinstimmende Willenserklärungen der Vertragspartner zustande, es gelten also die allgemeinen Regeln des BGB. Vertragspartner sind der Arbeitgeber und der Träger des Mitbestimmungsrechts, meist der Betriebsrat, im Rahmen ihrer Zuständigkeit auch der Gesamt- oder Konzernbetriebsrat. Auf Arbeitgeberseite ist für den Abschluss das Unternehmen bzw. – für Materien, die nach § 58 Abs. 1 BetrVG mehrere Unternehmen betreffen und deswegen nicht auf Unternehmensebene geregelt werden können – die Konzernmutter zuständig. Beim Gemeinschaftsbetrieb kommt es auf den Träger des Mitbestimmungsrechts an. Das kann die Gemeinschaft der Arbeitgeber sein (i.d.R. die von der Gemeinschaft der Arbeitgeber beauftragte Person) – wie etwa beim Abschluss einer Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit – oder der zuständige Einzelarbeitgeber – wie möglicherweise bei Fragen der Entgeltgestaltung (unstreitig bei der Mitbestimmung bei Eingruppierung nach § 99 BetrVG, bei der es aber nicht um Betriebsvereinbarungen geht).
Rz. 1476
Auf Seiten des Betriebsrates ist ein ordnungsgemäßer Beschluss des Betriebsratsgremiums erforderlich; eine ohne solchen Beschluss vom Betriebsratsvorsitzenden abgeschlossene Betriebsvereinbarung ist – ggf. schwebend bis zur nachfolgenden Zustimmung des Gremiums – unwirksam und entfaltet keine normativen Wirkungen (BAG v. 9.12.2014 – 1 ABR 19/13, juris). Wird der Beschluss nachgeholt, sind – soweit die Betriebsvereinbarung rückwirkend in Kraft gesetzt werden soll – die Grundsätze des Vertrauensschutzes zu beachten.
Rz. 1477
Ist eine Betriebsvereinbarung nicht zustande gekommen, kann der zustimmende Beschluss des Betriebsrats im Hinblick auf die anderweitigen Rechtsfolgen i.d.R. nicht als Einverständnis mit einer entsprechenden Regelungsabrede verstanden werden (BAG v. 23.10.2018 – 1 ABR 26/17, juris). Eine stillschweigende Genehmigung – ohne ausdrückliche Beschlussfassung – ist grds. nicht möglich. Die bloße Hinnahme eines mitbestimmungswidrigen Verhaltens des Arbeitgebers lässt grds. nicht auf den Willen zum Abschluss einer Regelungsabrede schließen (BAG 23.10.2018 – 1 ABR 26/17; zur möglichen Umdeutung in eine Gesamtzusage vgl. unten Rdn 1488).
Rz. 1478
Eine Übertragung des Abschlusses von Betriebsvereinbarungen auf Ausschüsse des Betriebsrates ist nicht zulässig (§§ 27 Abs. 3 S. 2, 28 Abs. 1 S. 3 BetrVG). Der Abschluss einer Betriebsvereinbar...