Joachim Vetter, Dr. iur. Martin Nebeling
1. Mitbestimmungsrecht und Arbeitnehmerrechte
Rz. 823
Das BetrVG regelt – die systematisch nicht ganz passenden Arbeitnehmerrechte auf Unterrichtung und Einsicht in die Personalakte ausgenommen (§§ 81 ff. BetrVG) – neben den formalen Bedingungen für Betriebsratswahl und -organisation das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat. Für die Frage, wie sich zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat getroffene Regelungen im Verhältnis zum Arbeitnehmer auswirken, finden sich außer § 77 Abs. 4 S. 1 BetrVG nur wenige Regelungen; dasselbe gilt für die Frage, welche Konsequenzen es im Verhältnis zum Arbeitnehmer hat, wenn der Arbeitgeber Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates missachtet.
2. Normative Geltung von Betriebsvereinbarungen
Rz. 824
Nach § 77 Abs. 4 S. 1 BetrVG gelten Betriebsvereinbarungen unmittelbar und zwingend; sie setzen Normen auch für Arbeitnehmer. Abgrenzungsprobleme ergeben sich insb. ggü. Regelungen im Arbeitsvertrag und daraus, dass offenbar – man denke an die Einführung von Kurzarbeit durch Betriebsvereinbarung oder die Verlegung der Arbeitszeit, die den Wünschen eines bestimmten Arbeitnehmers, der nun schlechtere Zugverbindungen in Kauf nehmen muss, gerade nicht entspricht – diese Normen in bestimmten Konstellationen für den Arbeitnehmer nicht nur günstige, sondern auch negative Auswirkungen haben können (Einzelheiten s. Rdn 1516 ff.). Regelungsabreden, d.h. Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat, die nicht die Form und die Qualität von Betriebsvereinbarungen haben, haben keine unmittelbaren Auswirkungen im Individualarbeitsverhältnis, begründen insb. keine unmittelbaren Ansprüche des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber (Einzelheiten s. Rdn 838).
3. Gesetzliche Regelung für Kündigungen
Rz. 825
Regelungen darüber, welche Auswirkungen die Verletzung des Mitbestimmungsrechtes des Betriebsrats durch den Arbeitgeber auf Arbeitsverhältnisse hat, finden sich nur an wenigen Stellen. Zum einen besagt § 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG, dass Kündigungen unwirksam sind, wenn der Betriebsrat vor Ausspruch nicht ordnungsgemäß unter Mitteilung der Gründe angehört worden ist. Aus Aufbau und Systematik des § 102 BetrVG lässt sich ohne Weiteres entnehmen, dass diese Rechtsfolge nicht eintritt, wenn die Anhörung ordnungsgemäß war, wenn der Betriebsrat der Kündigung aber widersprochen oder Bedenken geäußert hat. Bei ordnungsgemäßem Widerspruch ordnet das Gesetz die Weiterbeschäftigung während des Prozesses an (§ 102 Abs. 5 BetrVG), gerade nicht aber die Unwirksamkeit der Kündigung. Eine weitere Regelung findet sich in § 113 BetrVG. Sie besagt, dass Mitarbeiter, die entlassen wurden, ohne dass der Arbeitgeber im Fall der Betriebsänderung ordnungsgemäß mit dem Betriebsrat ggf. unter Einbeziehung der Einigungsstelle über die Umstrukturierung verhandelt hat, einen Abfindungsanspruch besitzen. Die Wirksamkeit der Kündigung wird, wie aus dieser Regelung ersichtlich ist, hierdurch aber gerade nicht berührt. Schließlich bedürfen Kündigungen und Versetzungen von Betriebsratsmitgliedern, die zum Verlust des Betriebsratsamtes führen, nach § 103 BetrVG der Zustimmung des Betriebsrates, die durch das ArbG ersetzt werden kann. Auch ohne ausdrückliche Regelung, welche Konsequenzen die fehlende Zustimmung hat, kann man dem Gesetzeswortlaut unmittelbar entnehmen, dass die Kündigung oder die Versetzung ansonsten unwirksam ist.
4. Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung
Rz. 826
Für sonstige Mitbestimmungsverletzungen finden sich keine Regelungen. Die Rspr. behilft sich mit der sog. "Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung", die besagt, dass Voraussetzung für die Wirksamkeit bestimmter Maßnahmen des Arbeitgebers ggü. dem Arbeitnehmer nicht nur deren individualrechtliche Zulässigkeit ist, sondern dass darüber hinaus auch die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates eingehalten sein müssen. Diese Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung gilt allerdings nicht für jede Verletzung und nicht für jede arbeitsvertragliche Maßnahme (zu den dogmatischen Grundlagen vgl. Wolter, RdA 2006, 137 ff.; Gutzeit, NZA 2008, 255; Lobinger, RdA 2011, 76 ff.; mit bemerkenswertem Ansatz auch Wiebauer, RdA 2013, 364 ff.; GK/Wiese, § 87 Rn 99 ff.; Fitting, § 87, 618 ff.; DKW/Klebe, § 87 Rn 5 ff.; Richardi/Maschmann, § 87 Rn 101 ff.).
a) Verletzung des § 87 BetrVG
Rz. 827
Das BAG vertritt diese "Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung", auch "Theorie der notwendigen Mitbestimmung" genannt, jedenfalls für eine Verletzung der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates nach § 87 BetrVG, darüber hinaus für die Durchführung von Versetzungen nach §§ 99, 95 Abs. 3 BetrVG. Der 2. Senat des BAG, vor allem zuständig für Kündigungen, beschränkt diese Wirkung auf einseitige Maßnahmen des Arbeitgebers, lässt die vertraglichen Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer hiervon unberührt.
b) Änderung des Arbeitsvertrags
Rz. 828
Für Änderungen des Arbeitsvertrags gilt diese Theorie nach der Rspr. des 2. Senats nicht. Diese sind – wie der erstmals abgeschlossene Arbeitsvertrag – demnach auch ohne Zustimmung des Betriebsrates wirksam. Soll allerdings die Vertragsänderung zu einer Änderung von Umständen führen, für deren Verwirklichung die Zustimmung des Betriebsrates erforderlich ist – etwa bei Überst...