Rz. 28
Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum allgemeinen Wohl dringend geboten ist. Eine einstweilige Anordnung kann u.a. dann erlassen werden, wenn sie notwendig ist, um die Effektivität der künftigen Entscheidung in der Hauptsache zu sichern, insbesondere den Eintritt irreversibler Zustände zu verhindern. Auch hier gilt der Grundsatz der Subsidiarität, und zwar sowohl in Bezug auf die Verfassungsbeschwerde als auch in Bezug auf die vorrangige Durchführung des fachgerichtlichen (Eil-)Verfahrens, es sei denn, dies ist unzumutbar (siehe Rdn 17); deshalb ist z.B. die übermäßige Dauer eines Verfahrens vor der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts zunächst mit der Verzögerungsrüge gem. § 198 Abs. 3 GVG zu rügen. Das Gebot effektiven Grundrechtsschutzes kann es rechtfertigen, eine einstweilige Anordnung gegen ein vom Bundespräsidenten ausgefertigtes Gesetz schon vor dessen Verkündung zu erlassen. Ein Antrag ist nur zulässig, wenn das Vorliegen der sich aus § 32 Abs. 1 BVerfGG ergebenden Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung substantiiert dargelegt ist; eine einstweilige Anordnung kann nicht ergehen, wenn die zu erhebende Verfassungsbeschwerde von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre; dazu ist in der Begründung vorzutragen.
Dabei ist allein eine Folgenbeurteilung und -abwägung vorzunehmen. Die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, haben grds. außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde wäre von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, sind gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre; das gilt nicht nur in Bezug auf den Beschwerdeführer, sondern auch in Bezug auf alle Betroffenen. Die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde sind dabei nicht bzw. im Hinblick auf die Sicherungsfunktion der Anordnung nur dann relevant, wenn sich die Verfassungsbeschwerde von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet erweist oder wenn ein Antrag in der Hauptsache nicht gestellt und wegen Fristablaufs auch nicht mehr zulässig ist. Die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde können ferner maßgeblich werden, wenn verwaltungsgerichtliche Beschlüsse betroffen sind, die im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ergangen sind und die Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen, insbesondere wenn die behauptete Rechtsverletzung bei Verweigerung einstweiligen Rechtsschutzes nicht mehr rückgängig gemacht werden könnte, die Entscheidung in der Hauptsache also zu spät käme; einstweiliger Rechtsschutz ist in einem solchen Fall aber nicht zu gewähren, wenn der Grundrechtseingriff offensichtlich nicht im Widerspruch zum Schutzgehalt der betroffenen Grundrechte steht. Es kann taktisch sinnvoll sein, zunächst nur den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu stellen, insbesondere dann, wenn unmittelbar Maßnahmen anstehen, die es einstweilen aufzuschieben gilt, und die Verfassungsbeschwerde selbst erst nach Erlass der einstweiligen Anordnung (jedoch vor Fristablauf!) einzureichen. Bei gleichzeitiger Einreichung neigt das Gericht gelegentlich dazu, sogleich über die Verfassungsbeschwerde – negativ – zu entscheiden und den Eilantrag sodann für erledigt zu erklären. Der Zulässigkeit eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung steht nicht entgegen, dass noch keine Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache vorliegt, allerdings muss bereits der Angriffsgegenstand des verfassungsgerichtlichen Hauptsacheverfahrens existieren und die Begründung der noch zu erhebenden Verfassungsbeschwerde ist anzugeben. Bei einem offenen Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts angeführt werden, grds. außer Betracht zu bleiben. Zu berücksichtigen sind einerseits die Schwere des Eingriffs in die Rechtsposition des Beschwerdeführers und andererseits das Interesse der Allgemeinheit. Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger und bei der Aussetzung eines Gesetzes ein besonders strenger Maßstab anzulegen; ein noch strengerer Maßstab gilt, wenn die einstweilen auszusetzende Norm zwingende Vorgaben des Unionsrechts in das deutsche Recht umsetzt, hier muss ein besonders schwerwiegender und irreparabler Schaden drohen. Eine verantwortliche Abwägung im Verfahren der einstweiligen...