Dr. Alexandra Jorzig, Ilse Dautert
(1) Mutmaßliche Einwilligung
Rz. 47
Eine Aufklärung kann in seltenen Fällen entbehrlich sein, wenn der Patient bereits aus vorangegangenen Eingriffen ausreichend aufgeklärt ist. Dem Patienten sei geraten, gleichwohl bei Wiederholung bereits bekannter Eingriffe erneut nach seinem individuellen Risiko zu fragen. Möglicherweise hat sich in seinem weiteren Krankheitsverlauf die Risikokonstellation verändert. Auch der Arzt ist gut beraten, wenn er sich in einem weiteren Aufklärungsgespräch vergewissert, dass der Patient noch "alles" aus der (Vor-)Aufklärung weiß. Eine einmal erklärte Einwilligung deckt nur die Behandlung aufgrund des bisherigen Kenntnisstands ab.
(2) Hypothetische Einwilligung
Rz. 48
Eine unzureichende Aufklärung führt dann nicht zur Arzthaftung, wenn der aufklärende Arzt darlegen und beweisen kann, dass der Patient auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung den konkreten Eingriff hätte durchführen lassen, d.h. eingewilligt hätte. Die Anforderungen an den Beweis derartiger Behauptung auf Arztseite sind nach der Rechtsprechung sehr hoch. Hätte der Patient den Eingriff bei ordnungsgemäßer Aufklärung durchführen lassen, wenn auch zu einem anderen Zeitpunkt, ggf. unter günstigeren Bedingungen oder in einer anderen Klinik, dann obliegt dem Arzt der Beweis dafür, dass es gleichermaßen zu dem jetzt vorliegenden Gesundheitsschaden gekommen wäre: Der Arzt muss beweisen, dass der bei dem unzureichend aufgeklärten Patienten durchgeführte Eingriff in einer anderen Klinik zu einem anderen Zeitpunkt denselben Verlauf genommen hätte. Der Einwand der "hypothetischen Einwilligung" muss von der Behandlerseite bereits in erster Instanz erhoben werden, wenn aufgrund eines Beweisbeschlusses zumindest in Betracht gezogen werden muss, dass eine Verurteilung wegen unzureichender Aufklärung erfolgen könnte, selbst wenn der erstinstanzlich angehörte Sachverständige anschließend keinen Aufklärungsfehler feststellt.
(3) Entscheidungskonflikt
Rz. 49
Dem Einwand des Arztes, es liege eine hypothetische Einwilligung vor, kann der Patient nur dadurch begegnen, dass er behauptet und dem Gericht plausibel macht, dass er sich bei ordnungsgemäßer Aufklärung in einem echten Entscheidungskonflikt befunden hätte. Eine derartige "Plausibilitätserklärung" wird regelmäßig nur durch persönliche Anhörung des Patienten zu beurteilen sein. Der Patient muss keine genauen Angaben darüber machen, wie er sich nun wirklich verhalten hätte. Es genügt, wenn er plausibel vorträgt, dass er bei vollständiger Aufklärung sich ernsthaft die Frage gestellt hätte, ob er tatsächlich diesen Eingriff zu diesem konkreten Zeitpunkt hätte durchführen lassen. Die Rechtsprechung stellt an die Darlegungen des Patienten eher gemäßigte Anforderungen. Der Patient muss z.B. darlegen, was er unternommen hätte, wenn er in den indizierten Eingriff zunächst nicht eingewilligt hätte.
Die Anforderungen sind umso höher, je vitaler, d.h. absoluter die Eingriffsindikation ist. Ist die Plausibilität des behaupteten Entscheidungskonflikts nicht mehr beurteilbar,
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weil der Patient zwischenzeitlich verstorben ist oder |
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nicht zum Termin erscheint, |
ist bei schlüssiger Darlegung von Arztseite – dass der Patient in jedem Fall eingewilligt hätte – die Aufklärungspflichtverletzung für die Realisierung des Risikos nicht kausal geworden, die Aufklärungsrüge nicht haftungsauslösend.