Rz. 75

Die europarechtlichen Vorgaben für die zeitliche Dauer einer Arbeitnehmerüberlassung waren lange Zeit unklar. Die EU-Kommission entnahm der Leiharbeitsrichtlinie in einer online nicht mehr verfügbaren Stellungnahme – entgegen der h.M. in der Literatur[167] – keine zeitliche Beschränkung der Arbeitnehmerüberlassung.[168] Auch die Große Kammer des EuGH vermied in der Rechtssache AKT[169] zunächst, zur Zulässigkeit mitgliedschaftlicher Beschränkungen der Arbeitnehmerüberlassung und dem "vorübergehenden" Charakter der Leiharbeit Stellung zu nehmen, indem sie Art. 4 Abs. 1 der Leiharbeitsrichtlinie im Wesentlichen eine bloß prozedurale Verpflichtung der Mitgliedstaaten entnahm. Die Kammer stellte insoweit klar, dass die Mitgliedstaaten bei der Regelung der Arbeitnehmerüberlassung nicht völlig frei seien, sondern den in Art. 4 Abs. 1 der Leiharbeitsrichtlinie festgelegten Rahmen zu beachten hätten, wonach Verbote oder Einschränkungen des Einsatzes von Leiharbeit nur aus Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind. Zur zulässigen Dauer einer Arbeitnehmerüberlassung äußerte sie sich indes nicht. Dies galt auch für Generalanwalt Szpunar.[170] Dieser betonte in seiner Stellungnahme zur vorstehenden Rechtssache den bipolaren Regelungszweck der Richtlinie, die einerseits die Leiharbeitnehmer vor missbräuchlichen Gestaltungen schützen, andererseits aber auch ungerechtfertigte Hemmnisse der Leiharbeit beseitigen solle, um den flexiblen Einsatz von Leiharbeitnehmern zu fördern. Bei der Abwägung dieser gegenläufigen Interessen räumte der Generalanwalt den Mitgliedstaaten einen "bedeutenden Wertungsspielraum" ein. Mit der Frage der zeitlichen Dauer einer Arbeitnehmerüberlassung befasste aber auch er sich nicht.

 

Rz. 76

Erst in den Rechtssachen JH/KG[171] und Daimler[172] setzte sich die Zweite Kammer des EuGH mit dem "vorübergehenden" Charakter der Leiharbeit auseinander. Hierbei knüpfte die Kammer an Art. 5 Abs. 5 S. 1 der Leiharbeitsrichtlinie an, wonach die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen gemäß ihren nationalen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten ergreifen, um eine missbräuchliche Anwendung zu verhindern und um insbesondere aufeinanderfolgende Überlassungen, mit denen die Richtlinie umgangen werden sollen, zu verhindern. Hieraus folgt nach Ansicht der Zweiten Kammer zwar keine Beschränkung der Anzahl der Überlassung und kein Rechtfertigungserfordernis für eine Überlassung als solche.[173] Allerdings entnimmt die Zweite Kammer Art. 5 Abs. 5 S. 1 der Leiharbeitsrichtlinie die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, Maßnahmen zur Wahrung des "vorübergehenden" Charakters der Leiharbeit und zur Verhinderung von Umgehungen der Leiharbeitsrichtlinie durch aufeinanderfolgende Überlassungen zu ergreifen.[174] Unter Bezugnahme auf die Stellungnahme von Generalanwältin Sharpston[175] könne auf einen solchen Missbrauch hindeuten, wenn aufeinanderfolgende Überlassungen zu einer Beschäftigungsdauer führten, die länger seien als was vernünftigerweise als vorübergehend betrachtet werden könne. Gleiches gelte, wenn es für die aufeinander folgenden Überlassungen keine objektive Erklärung gebe.

 

Rz. 77

Bei der Ausgestaltung dieser Vorgaben haben die Mitgliedstaaten einen Spielraum. Der EuGH stellt in der Rechtssache Daimler[176] klar, dass die Leiharbeitsrichtlinie die Mitgliedstaaten nicht dazu verpflichte, eine bestimmte Regelung zur Überlassungsdauer zu erlassen. Es stehe den Mitgliedstaaten aber frei, im nationalen Recht eine bestimmte Dauer festzulegen, bei deren Überschreitung eine Überlassung nicht mehr als vorübergehend anzusehen werden könne, wenn sich die aufeinanderfolgenden Verlängerungen der Überlassung desselben Leiharbeitnehmers an denselben Entleiher über einen längeren Zeitrum erstreckten. Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs bestehen gegen die 18-monatige Überlassungshöchstdauer keine europarechtlichen Bedenken.[177] Dies gilt auch für die dreimonatige Karenzzeit. Hierdurch wird dem Gebot, eine Umgehung der Richtlinie durch aufeinanderfolgende Überlassungen zu verhindern, hinreichend Rechnung getragen.[178] Entsprechend hat auch der EuGH zum vergleichbaren Regelungsproblem des § 5 Anhang RL 1999/70/EG entschieden.[179] Den in der Literatur teilweise gegen die Tariföffnungsklausel vorgebrachten europarechtlichen Bedenken[180] ist der EuGH in der Rechtssache Daimler[181] nicht gefolgt. Es sei mit der Leiharbeitsrichtlinie vereinbar, wenn der Gesetzgeber den Sozialpartnern Abweichungsmöglichkeiten einräumt (vgl. zu den Grenzen Rdn 110). Die Mitgliedstaaten verfügten insoweit über einen weiten Wertungsspielraum. Dieser umfasse auch die Bestimmung der Sozialpartner, sodass es europarechtlich unbedenklich sei, wenn die Tarifvertragsparteien der Entleiherbranche für den Abschluss entsprechender Tarifverträge für zuständig erklärt würden.

 

Rz. 78

Mit der Frage, ob die infolge der Übergangsfrist des § 19 Abs. 2 AÜG vorgesehene Ausklammerung von Überlassungszeiten vor dem 1.4.2017 für Zwecke der Berechnung de...

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