Dr. iur. Robert Bauer, Dr. iur. Oliver Bertram
Rz. 285
Nach § 11 Abs. 5 S. 1 AÜG darf der Entleiher den Leiharbeitnehmer nicht tätig werden lassen, wenn sein Betrieb unmittelbar durch einen Arbeitskampf betroffen ist. Dies gilt gemäß § 11 Abs. 5 S. 2 AÜG nur dann nicht, wenn der Entleiher sicherstellt, dass Leiharbeitnehmer keine Tätigkeiten übernehmen, die bisher von Arbeitnehmern erledigt wurden, die sich im Arbeitskampf befinden oder ihrerseits Tätigkeiten von Arbeitnehmern, die sich im Arbeitskampf befinden, übernommen haben. Der Leiharbeitnehmer ist nach Satz 3 zudem nicht verpflichtet, bei einem Entleiher tätig zu sein, soweit dieser durch einen Arbeitskampf unmittelbar betroffen ist. Der Verleiher hat den Leiharbeitnehmer auf das Recht, die Arbeitsleistung zu verweigern, hinzuweisen.
Rz. 286
Nach der Gesetzesbegründung seien in den Jahren vor der AÜG-Reform von 2017 zunehmend häufiger Leiharbeitskräfte bei Arbeitskämpfen als Streikbrecher eingesetzt worden. Leiharbeitnehmer seien dabei zum Teil massiv unter Druck gesetzt worden. Aufgrund ihrer besonderen Situation, in der Regel befristet und mit der Hoffnung auf Übernahme in einem Entleiherbetrieb tätig zu sein, seien diese nicht selbst zum Streik berechtigten Leiharbeitskräfte gegenüber derartigen Einwirkungen besonders schutzbedürftig. Es habe sich gezeigt, dass das Leistungsverweigerungsrecht aufgrund der besonderen Situation von Leiharbeitskräften nicht ausreichend sei. Auch hätten sich tarifvertragliche Verbote des Einsatzes von Leiharbeit in Arbeitskämpfen in der Praxis als nicht wirksam durchsetzbar erwiesen. Insbesondere würden die tarifvertraglichen Regelungen nicht für ins Inland entsandte Leiharbeitskräfte von Verleihern mit Sitz im Ausland gelten, sodass teilweise bei Arbeitskämpfen gezielt solche Leiharbeitnehmer als Streikbrecher eingesetzt würden. Die Position von Leiharbeitnehmern werde durch die Neuregelung gestärkt und eine missbräuchliche Einwirkung auf Arbeitskämpfe unterbunden.
Rz. 287
Den Einsatz von Streikbrechern als eine "missbräuchliche Einwirkung" auf Arbeitskämpfe zu bewerten, überrascht. So ist eine arbeitskampfbedingte Versetzung arbeitswilliger Arbeitnehmer auch nach Lesart des BAG in einem bestreikten Betrieb eine legitime Abwehrmaßnahme des Arbeitgebers. Damit versucht er, den Betrieb fortzuführen, die wirtschaftlichen Folgen des Streiks zu verringern und gleichzeitig seine Stellung in der Tarifauseinandersetzung zu verbessern. Dem Arbeitgeber bleibt es dabei selbst überlassen, ob er arbeitswillige Arbeitnehmer einsetzt oder auf Leiharbeitnehmer zurückgreift.
Rz. 288
Im Ergebnis soll mit der Neuregelung der Arbeitgeber aber daran gehindert werden, Leiharbeitnehmer anstelle streikender Stammarbeitnehmer einzusetzen. Damit wird Leiharbeitnehmern die Entscheidung über die Streikteilnahme durch die gesetzliche Vorgabe abgenommen. Eine gerade mit Blick auf die verfassungsrechtlichen Grundsätze der negativen Koalitionsfreiheit sowie der Freiheit der Wahl der Arbeitskampfmittel nachvollziehbare Erklärung folgt aus der Gesetzesbegründung nicht. Auch Stammarbeitskräfte unterliegen einem Druck, nicht an einem Arbeitskampf teilzunehmen. Dieser ist im Zweifel sogar größer, da sie – anders als Leiharbeitnehmer, die ihr Leistungsverweigerungsrecht ausüben (vgl. hierzu indes unten unter Rdn 316 ff.) – ihren Entgeltanspruch in jedem Fall verlieren.
1. Verbot des Einsatzes von Leiharbeitnehmern im bestreikten Betrieb
Rz. 289
Das Einsatzverbot greift, wenn der Betrieb des Entleihers unmittelbar durch einen Arbeitskampf betroffen ist. Dem gesetzlichen Verbot kann der Entleiher nur dadurch "entgehen" indem er sicherstellt, dass Leiharbeitnehmer keine Tätigkeit übernehmen, die bisher von streikenden Arbeitnehmern erledigt wurden oder die ihrerseits Tätigkeiten von streikenden Arbeitnehmern übernommen haben. Es ist kaum in Abrede zu stellen, dass diese Einschränkung des Einsatzverbots zwar letztlich die Beschränkung auf den "Streikbruch" regeln soll, indes faktisch das Einsatzverbot hierüber hinaus bewirkt. Denn die Bestimmung stellt auf Tätigkeiten schlechthin ab und bürdet dem Entleiher zusätzlich auf, dies sicherstellen zu müssen. In der Situation eines Arbeitskampfs wird dies praktisch kaum möglich sein.
a) Betrieb vom Arbeitskampf unmittelbar betroffen
Rz. 290
Das Einsatzverbot greift, wenn der Betrieb des Entleihers unmittelbar durch einen Arbeitskampf betroffen ist. Wann eine solche unmittelbare Betroffenheit des Betriebs vorliegen soll, folgt aus § 11 Abs. 5 S. 1 AÜG selbst nicht, entsprechendes gilt für die Gesetzesbegründung. Maßgeblich sind daher die allgemeinen Maßstäbe.
aa) Streikaufruf und unmittelbare Betroffenheit
Rz. 291
Zunächst muss der in Rede stehende Entleiherbetrieb dem räumlichen und fachlich...