Dr. iur. Robert Bauer, Dr. iur. Oliver Bertram
Rz. 174
Auch nach der Reform besteht der vom Gesetzgeber vorgesehene Normalfall weiterhin darin, dass Leiharbeitnehmer ab dem ersten Tag der Überlassung an einen Entleiher nach dem Equal Treatment Grundsatz vergütet werden müssen. Die hiermit verbundenen rechtlichen und tatsächlichen Schwierigkeiten wurden bereits ausführlich dargestellt. Die Reform hat daher von der alten Rechtslage die Möglichkeit übernommen, durch die Anwendung eines leiharbeitsspezifischen Tarifvertrages vom Equal Treatment Grundsatz abweichen zu dürfen. Sofern ein entsprechender Tarifvertrag demnach vollumfänglich in Bezug genommen wird, hat er Leiharbeitnehmer lediglich noch Anspruch auf die tarifliche Vergütung. Der Equal Treatment Anspruch wird vollständig verdrängt. Das BAG hat dem EuGH jedoch im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens u.a. die Frage vorgelegt, ob die im deutschen AÜG vorgesehene schrankenlose Möglichkeit, von dem Equal Treatment Grundsatz abzuweichen, mit Art. 5 Abs. 3 RL 2008/104/EG (Leiharbeitsrichtlinie) vereinbar ist. Streitig ist insoweit, ob der deutsche Gesetzgeber in Umsetzung der Leiharbeitsrichtlinie dafür Sorge zu tragen hatte, dass ein Tarifvertrag nur dann eine Abweichung von dem Equal Treatment Grundsatz erlaubt, wenn dieser die Mindestanforderungen des Art. 5 Abs. 1 RL 2008/104/EG wahrt.
Rz. 175
Dabei ist zu betonen, dass sich diese Abweichungsmöglichkeit tatsächlich keineswegs immer zu Lasten des Leiharbeitnehmers auswirkt. Das in den Leiharbeitstarifverträgen vorgesehene Entgeltniveau liegt selbst auf der untersten Entgeltstufe deutlich über dem allgemeinen Mindestlohn. Es ist durchaus keine Seltenheit, dass die tarifvertraglich vorgesehene Vergütung über der Equal Treatment Vergütung des Entleihers liegt. Zudem würde die Equal Treatment Vergütung nur während der Dauer des Einsatzes geschuldet, wohingegen das tarifvertraglich vorgesehene Entgelt auch in einsatzfreien Zeiten gezahlt werden muss. Des Weiteren führt eine Equal Treatment Vergütung bei Einsatzwechseltätigkeiten zwangsläufig dazu, dass die tatsächliche Vergütung des Leiharbeitnehmers ständig wechselt und erheblichen Schwankungen unterliegt. Durch eine Vergütung auf Grundlage eines entsprechenden Leiharbeitstarifvertrages wird für den Leiharbeitnehmer demnach eine kalkulierbare Einkommenssituation geschaffen. Weder einsatzfreie Zeiten noch "ungünstige" Einsatzwechsel können zu erheblichen Vergütungseinbußen führen. Durch die 2012 eingeführten Branchenzuschlagstarifverträge werden diese Vorteile zwar ein Stück weit abgeschwächt, für den Leiharbeitnehmer bleibt jedoch das tarifvertragliche Vergütungsniveau als verlässliche Kalkulationsgrundlage erhalten.
Rz. 176
Die Anwendung entsprechender Tarifverträge zur Abweichung vom Equal Treatment Grundsatz steht auch solchen Unternehmen offen, bei denen die Arbeitnehmerüberlassung nur einen geringen Teil der Geschäftstätigkeit ausmacht (sog. Mischbetriebe). Dies war lange Zeit umstritten. Insbesondere die Agentur für Arbeit als für die Inhaber eine Verleiherlaubnis zuständige Prüfbehörde vertrat lange Zeit die Auffassung, dass ein Betrieb überwiegend Arbeitnehmerüberlassung betreiben müsse, um wirksam entsprechende Tarifverträge in Bezug nehmen zu können. Sofern die Arbeitnehmerüberlassung demnach nicht der alleinige Geschäftszweck war und weniger als 50 % der gesamten erbrachten Arbeitszeit umfasste, war nach Auffassung der Agentur für Arbeit eine Abweichung vom Equal Treatment Grundsatz durch Tarifvertrag nur dann möglich, wenn zuvor eine eigenständige Betriebsabteilung gegründet wurde, deren Geschäftszweck überwiegend die Arbeitnehmerüberlassung war.
In seiner Entscheidung vom 12.10.2016 hat das BSG jedoch am Beispiel der BAP-Tarifverträge entschieden, dass diese Auffassung der Agentur für Arbeit falsch war. Die Frage, ob entsprechende Tarifverträge auch von Unternehmen bzw. Betrieben in Bezug genommen werden könne, die nicht überwiegend Arbeitnehmerüberlassung betreiben, hänge allein vom von den Tarifvertragsparteien festgelegten Anwendungsbereich des Tarifvertrages ab. Wenn dieser nicht auf Unternehmen oder Betriebe mit dem alleinigen oder überwiegenden Geschäftszweck der Arbeitnehmerüberlassung festgelegt sei, komme eine entsprechende Einschränkung nicht in Betracht. Die Agentur für Arbeit hat ihre Verwaltungspraxis inzwischen entsprechend angepasst und ermöglicht auch Mischbetrieben die Abweichung vom Equal Treatment Grundsatz, ohne dass hierfür zunächst eine eigenständige Betriebsabteilung gegründet werden muss.
Praxishinweis
Nach dem bislang Geschilderten überrascht es nicht, dass in der Leiharbeitsbranche nahezu flächendeckend Tarifverträge angewandt werden. Seit der Reform des AÜG aus April 2017 ist die bedingungslose Abweichung vom Equal Treatment Grundsatz jedoch nur noch für maximal neun Monate zulässig. Nach diesem Zeitpunkt muss der Leiharbeitnehmer hinsichtlich des Arbeitsentgelts gleichgestellt werden, was regelmäßig als "Equal Pay" b...